Für die Kinder von gestern, heute und morgen – Bayerisches Staatsballett übernimmt ein Stück von Pina Bausch
Zum ersten Mal wird eine andere Kompanie als das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch eines der jüngeren Stücke von Pina Bausch einstudieren.
Die Pina Bausch Foundation koproduziert das Stück „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ aus dem Jahr 2002 in Zusammenarbeit mit dem Tanztheater Wuppertal mit dem Bayerischen Staatsballett. Premiere wird am 3. April 2016 zur Eröffnung der jährlichen BallettFestwoche im Nationaltheater München sein.
Das Bayerische Staatsballett, die Pina Bausch Foundation und das Tanztheater Wuppertal betreten damit gemeinsam Neuland. Ballettdirektor Ivan Liška und seine Dramaturgin Bettina Wagner-Bergelt waren seit 2008 mit Pina Bausch selbst im Gespräch über diese Einstudierung. Er hatte sich das Tanztheater-Stück zur Krönung der Werkschau TANZLAND DEUTSCHLAND, die über vier Spielzeiten Höhepunkte choreografischen Schaffens in Deutschland zeigt, gewünscht. Pina Bausch hatte zuvor bereits ihre Choreografien von Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ und der Tanzoper „Orpheus und Eurydike“ mit dem Ensemble der Pariser Oper einstudiert.
Bei der Stückübergabe an das Münchener Ensemble arbeiten die Pina Bausch Foundation und das Tanztheater Wuppertal Hand in Hand. Die Einstudierung wird geleitet von Ruth Amarante in Zusammenarbeit mit Daphnis Kokkinos und Azusa Seyama. Alle drei Tänzer des Tanztheater Wuppertal haben viele Jahre mit Pina Bausch gearbeitet. Sie sind seit Dezember 2014 dabei, in Workshops aus dem knapp 70 Mitglieder starken Ensemble des Bayerischen Staatsballetts die Tänzerinnen und Tänzer für das Stück auszuwählen. Nach und nach werden alle 14 Tänzerinnen und Tänzer aus der Besetzung der Uraufführung ihre Parts persönlich an die Münchener Kollegen weitergeben. Peter Pabst wird wie in Wuppertal für das Bühnenbild verantwortlich zeichnen, Marion Cito für die Kostüme sowie Matthias Burkert und Andreas Eisenschneider für die Musik.
PRESSEINFORMATION "Bayerisches Staatsballet übernimmt ein Stück von Pina Bausch"
Im Dezember 2014 fuhren Ruth Amarante, Azusa Seyama und Daphnis Kokkinos zum ersten Mal nach München, um die Kolleginnen und Kollegen vom Bayerischen Staatsballett kennenzulernen. Es galt, aus der 60köpfigen Kompanie 24 Tänzerinnen und Tänzer für die Besetzung des Stückes Für die Kinder von gestern, heute und morgen zu finden. Ein langer Prozess, der sich in mehreren intensiven Arbeitsphasen fast über ein ganzes Jahr zog. Erst im November 2015 begannen die eigentlichen Proben. Neben dem Dreier-Team vom Tanztheater Wuppertal, das die gesamte Einstudierung des Pina Bausch-Stücks aus dem Jahr 2002 leitet, sind auch alle Tänzerinnen und Tänzer der Wuppertaler Besetzung nach München gereist, um ihren Part an die jeweiligen Kollegen weiterzugeben und mit ihnen zu trainieren.
Kostümbildnerin Marion Cito suchte persönlich die Stoffe aus, damit die Kostüme originalgetreu nachgeschneidert werden konnten, Peter Pabst ist für die Einrichtung der Bühne vor Ort, Mathias Burkert für die Musik, und auch die Kollegen für Licht und Technik geben ihr Know-how weiter. Alle Beteiligten betreten dabei Neuland: Zum ersten Mal studiert eine andere Kompanie als das Tanztheater Wuppertal eines der jüngeren Stücke von Pina Bausch ein.
Jetzt, im Rückblick und kurz vor der Premiere: Was war – oder ist – die größte Herausforderung in diesem ganzen Prozess?
Ruth Amarante: Es gibt 14 Rollen in diesem Stück, und die Tänzer müssen jeweils genau zu der jeweiligen Rolle passen, sowohl von der Persönlichkeit als auch von der Bewegungsqualität. Die Auswahl ist entscheidend für alles Weitere. Man hat so viele Möglichkeiten, es richtig oder falsch zu machen, und manchmal ist diese Grenze sehr fein. Man muss dem anderen ja auch die Möglichkeit geben, zu wachsen. Das ist schon eine große Verantwortung.
Wie muss man sich denn diesen langen Auswahlprozess vorstellen? Wie sind Sie vorgegangen?
Ruth Amarante: Wir haben sehr praktisch gearbeitet, ausgehend von den Bewegungen. Und erstmal anhand der Soli geschaut, wie sich die Tänzer bewegen.
Daphnis Kokkinos: Wir haben sehr lange beobachtet. Man kann nicht beim ersten Mal sagen „der, der und die sind es“. Das konnte am nächsten Tag, in einer anderen Szene schon wieder ganz anders sein. Das musste sich entwickeln, und es gab auch immer wieder Überraschungen. Am Anfang haben wir erstmal alle Frauen und alle Männer angeschaut, dann haben wir mit drei bis fünf Tänzern pro Rolle gearbeitet, dann weiter mit einer kleineren Gruppe. Schließlich haben wir mit 24 Tänzerinnen und Tänzern gearbeitet. Da einige Tänzer mehr als eine Rolle lernen, wird jede Rolle doppelt besetzt sein.
Was war für die Münchner Kollegen schwieriger – das Arbeiten mit Sprache oder das ungewohnte Bewegungsrepertoire?
Ruth Amarante: Die Sprache war weniger ein Problem. Das Stück hat ja auch sehr viel Tanz, allein 14 Soli. Aber die Bewegung war doch eine ganz neue Welt. Das ist ja auch eine Riesenherausforderung für die Tänzer, die vielleicht am Tag vorher noch Spitze getanzt haben.
Daphnis Kokkinos: Manche haben am Anfang gedacht, sie könnten überhaupt nicht sprechen. Dabei können sie unglaublich gut sprechen! Sie wussten es nur noch nicht, weil sie die Möglichkeit noch nicht hatten und mussten das erst selbst entdecken. Das ist phantastisch, das zu erleben!
Azusa Seyama: Natürlich waren die Sprache und die Art der Bewegungen etwas, womit sie nicht vertraut waren. Aber ich fand es auch sehr interessant, wie schwierig es zunächst für sie war, auf der Bühne einfach sie selbst zu sein, vor allem, wenn nicht getanzt wird. Sie haben so viel Erfahrung und Können als Tänzer, aber uns interessiert mehr, wer sie als Person sind, als was für exzellente Tänzer sie sind. Man fühlt sich manchmal sehr nackt, wenn man sich auf der Bühne einfach als ein natürliches Wesen zeigen soll, während man sich vom Publikum beobachtet weiß. Es braucht Mut, um uns zu zeigen, wie wir wirklich sind. Aber ich möchte ihnen sagen, wie schön sie immer schon sind, und dass sie sich nicht darum sorgen müssen, wie schön sie nach außen hin wirken, und dass sie gar nichts dafür tun müssen.
Wie muss man sich denn die Arbeit der Einstudierung ganz praktisch vorstellen?
Ruth Amarante: Bis Ende 2015 waren unsere Wuppertaler Kollegen da und haben ihre Rollen weitergegeben. Da wurde oft in vier Sälen gleichzeitig geprobt. Nachdem diese Phase abgeschlossen ist, geht es für uns darum, weiter an dem Material zu arbeiten, so dass es noch mehr Farbe und Tiefe bekommt. Und dann muss natürlich alles noch so zusammengesetzt werden, dass es einen Sinn ergibt.
Daphnis Kokkinos: Das sind ja alles sehr gute Tänzer. Einen Bewegungsablauf lernen sie natürlich sehr schnell. Man braucht das alles nur einmal sagen, da sind sie phantastisch. Aber man kann eine Bewegung auch perfekt nachahmen, und sie bleibt trotzdem nur eine leere Form. Deshalb geht es auch darum, zu verstehen, wo die Bewegung herkommt, was sie bedeutet, sich die Bewegung ganz zu eigen zu machen, damit es ganz natürlich zu einem selbst gehört. Wie kann man man selbst bleiben, auch wenn man das Material von jemand anderem hat – das muss man herausfinden.
Ruth Amarante: Die Arbeit des Tanztheaters ist einfach eine ganz andere, als man das in einer klassischen Ballettkompanie gewohnt ist. Bei uns ist das ein ganz langer Prozess, in dem die Bewegungen oder auch nur eine Bewegungsphrase entwickelt werden. Das hat auch mit der Methode des Fragenstellens von Pina zu tun. Die Bewegungen entstehen oft aus einer inneren Motivation, als Antworten auf die Fragen – gewissermaßen von innen nach außen. Jetzt müssen wir von außen nach innen arbeiten – und in einem sehr viel kürzeren Zeitraum.
Beim Tanztheater Wuppertal werden doch auch die Rollen von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Wo ist da der Unterschied?
Daphnis Kokkinos (lacht): Dass es immer nur einer ist.
Ruth Amarante: In Wuppertal wachsen die neuen Tänzer in diese Kultur hinein, sie sind davon ganz umgeben und die anderen Tänzer können sie ein Stück weit tragen. In München ist die Kultur, die Form, die Ästhetik , die sie gewohnt sind, für alle eine ganz andere. Da ist für alle gleichzeitig alles neu.
Daphnis Kokkinos: Aber der Prozess der Weitergabe einer Rolle ist im Grunde ähnlich. Wir haben ja auch selbst schon Rollen von unseren Kollegen in Wuppertal übernommen.
Azusa Seyama: Es war eine Herausforderung und interessant herauszufinden, wie man sie an unsere Bewegungen heranführt, ohne dass man versucht, sie wie eine Kopie von uns aussehen zu lassen. Und wenn sie dann etwas verstanden haben, was ich versucht habe ihnen zu erklären, dann war das für beide Seiten ein sehr erfüllendes Gefühl. Ich genieße diesen Prozess der Weitergabe sehr!
Auch für Sie drei ist in diesem Fall alles neu: Es ist das erste Mal überhaupt, dass eines der neueren Stücke von Pina Bausch an eine andere Kompanie gegeben wird. Und Sie sind zum ersten Mal mit dieser Aufgabe der künstlerischen Leitung der Einstudierung betraut. Wie arbeiten Sie zusammen?
Ruth Amarante: Wir haben die gleiche langjährige Erfahrung über 20 Jahre, wir haben eine ähnliche Empfindung über das, was für diese Arbeit wichtig ist.
Daphnis Kokkios: Ich glaube, so ist es ideal, weil wir das Stück und die Tänzer von ganz verschiedenen Seiten betrachten können, und wir können unsere verschiedenen Erfahrungen einbringen.
Azusa Seyama: Ich bin total einverstanden mit Ruth und Daphnis! Seid ich zum Tanztheater Wuppertal kam, gehören die beiden zu meinen großen Vorbildern unter Pinas Tänzern, und ich lerne viel von ihrer Erfahrung. Ich habe großen Respekt für sie. Wir sehen mit unterschiedlichen Augen, aber wir respektieren den Blick des anderen, und wir teilen die gleichen Gefühle... das ist wunderbar!!
(Anmerkung: Azusa Seyama hat bereits bei der Uraufführung des Stücks mitgetanzt, Daphnis Kokkinos war bei dem Stück Assistent von Pina Bausch, Ruth Amarante bringt langjährige Erfahrung in der Einstudierung von anderen Stücken mit).
Und wie erleben Sie diese neue Aufgabe? Mit welchen Gefühlen?
Ruth Amarante: Es ist natürlich eine große Verantwortung, und wir versuchen, ihr gerecht zu werden. Aber es ist auch sehr schön zu sehen, welche Riesenschritte die Tänzer über diesen Zeitraum gemacht haben und wie begeisterungsfähig sie sind. Auch wenn es manchmal natürlich frustrierende Momente für sie gibt. Sie gehen mit so viel Lust in die Proben! Mit diesen Tänzern zu arbeiten ist wirklich ein Genuss.
Azusa Seyama: Ja, es sind unglaublich professionelle Tänzer, und es sind auch so wunderbare Menschen. Ihnen jedesmal in der Arbeit ein bisschen näher zu kommen, ist immer eine Freude für mich.
Daphnis Kokkinos: Sie sind einfach phantastisch. Man möchte sie am liebsten alle mitnehmen!
Was interessiert Sie persönlich am meisten an der Weitergabe?
Azusa Seyama: Für mich ist es interessant zu sehen, wie jemand meinen Part übernimmt. Ich habe mich ja nie von außen gesehen. Es ist auch für mich ein Lernprozess, beim Weitergeben kann ich noch viel mehr entdecken, als wenn ich es selber mache. Und es ist so schön zu sehen, wie sich jemand an die Rolle annähert, wie er dem näher kommt und dabei aufblüht. In den Momenten bin ich wirklich glücklich, hier zu sein.
Das Interview führte Anne-Kathrin Reif
Die Herausforderung ist Offenheit
Herr Liška, über mehrere Jahre haben Sie das Ziel verfolgt, mit dem Bayerischen Staatsballett ein Stück von Pina Bausch auf die Bühne zu bringen. Was war der Antrieb dazu?
Ivan Liška: Der Antrieb war ein zweifacher, zum einen als Tänzer und zum anderen als Zuschauer. Als Tänzerdarsteller, der in seiner Karriere nicht alles machen konnte, musste ich mich selbstverständlich auf bestimmte Aufgaben konzentrieren, aber ich hatte immer den Anspruch, alle Facetten des Tanzes zu erfahren. Der zweite Faktor ist der des Zuschauers. Schon als junger Tänzer beim Ballett der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf habe ich seit Pina Bauschs Anfang in Wuppertal viele Vorstellungen dort gesehen. Ich erinnere mich zum Beispiel an das Stück „Arien“, wo ich innerhalb von vier Stunden zwei Mal heftig weinte und zwei Mal übermäßig gelacht habe. Es ist eine Art Katharsis, die ich in Pina Bauschs Stücken erlebte. Das finde ich als Zuschauer begehrenswert. Und ich denke mir, wenn man mich hier in München bat, dem Münchner Publikum das Beste zu zeigen, dann gehört ein Werk von Pina Bausch dazu. Dass es so viele Jahre gedauert hat, ist nur ein Zeichen dafür, dass beide Seiten – sowohl die Pina Bausch Foundation als auch das Staatsballett – es seriös und ernsthaft meinten. Es war uns von unserer Seite immer bewusst, dass es ein großes Unterfangen ist, wo nicht nur die Logistik und die Finanzen stimmen müssen, sondern hauptsächlich das künstlerische Vertrauen.
Das Bayerische Staatsballett hat sich unter Ihrer Leitung in den vergangenen Jahren über das klassische Repertoire hinaus verschiedene moderne Stile angeeignet. Ein Tanztheaterstück ist aber noch einmal etwas ganz anderes. Worin besteht die besondere Herausforderung für das Ensemble?
Liška: Simone Sandroni, der mit Wim Vandekeybus die Kompanie Ultima Vez gegründet hat, hat hier gearbeitet, das geht auch ein bisschen in die Richtung Tanztheater. Ein paar Erfahrungen mit Tanztheater hat die Kompanie also schon, aber in einem kleinen Rahmen. Die Herausforderung für die Tänzer ist: Offenheit. Ich trete dafür ein, dass ich mich als Tänzer öffnen muss, egal wie ich auf die Bühne gehe. Diejenigen, die das nicht in ihre künstlerische Vita aufnehmen, scheitern. Und die Kompanie weiß, dass ich das in ihnen unterstütze. Manche brauchen dafür länger. Deshalb ist es auch richtig, dass die Einstudierungs- und Übertragungszeit als so lang geplant ist. Hoffentlich ausreichend.
Waren die Tänzerinnen und Tänzer sofort offen für dieses Projekt und bereit, nun auch noch diese neue Erfahrung zu machen – oder mussten Sie Überzeugungsarbeit leisten?
Liška: Nun, ich habe die Arbeit von Pina Bausch mit ihnen besprochen, habe von meiner eigenen Erfahrung damit als Zuschauer erzählt, aber auch mit den Tänzern des Tanztheater Wuppertal, von denen ich viele seit langer Zeit kenne. Ja, sie waren sofort offen, aber es geht auch um die Technik: Wie bediene ich mich meiner inneren Offenheit, wenn zum Beispiel von mir verlangt wird, dass ich einer von 16 bin und mein Individuum sich erst einmal in Dienst der 16 Individuen stellen soll, die alle gleichrangig sind. Das ist nicht die einzige Aufgabe, die sie zu bewältigen haben, die Aufgaben sind sehr vielfältig. Ich glaube, sie waren sofort offen, vor allen Dingen durch die Konfrontation mit den Leistungen ihrer nächsten Kollegen. Weil jeder sowohl frei sein aber vielleicht auch noch scheitern kann, weil er nicht weiß wie er zugleich sein Inneres in Worte fassen und mit der Bewegung zusammen bringen soll – was für Wuppertaler Tänzer selbstverständlich ist.
Sie haben sich von Pina Bausch genau dieses Stück „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ gewünscht – warum gerade dieses Stück?
Liška: Weil ich mir denke, dass es ein Stück ist, das unsere Kompanie bewältigen kann. Es gab ja eine Periode bei Pina Bausch wo andere Formen als die Tanzbewegungen dominierten. „Kinder“ ist ein Stück, wo es wieder mehr Tanz gibt. Es wirkte so, dass man sich vorstellen konnte, das würden wir eventuell schaffen können. Ein Stück wie „Arien“ kann ich mir nicht vorstellen. Und ich verstehe auch die anfängliche zögerliche Haltung der Tanztheater-Mitglieder. Es ist nicht so, dass man es nicht mit anderen teilen möchte – aber man fragt sich einfach: wie? Ich habe mir dieses Stück aber auch gewünscht, weil es so tief melancholisch-optimistisch ist. Es ist eines der hinreißendsten und charmantesten Stücke der letzten Schaffensperiode von Pina Bausch – ein Meisterstück von ihr.
Es ist das erste Mal überhaupt, dass eines der jüngeren Stücke von Pina Bausch von einem anderen Ensemble als dem Tanztheater Wuppertal, dessen Mitglieder diese Stücke entscheidend mitgeprägt haben, einstudiert wird. Niemand kann im Voraus sagen, wie das Ergebnis sein wird. Gehen Sie nicht auch ein großes Risiko ein?
Liška: Nun, aus der Erfahrung kann ich die Werte dieser Kompanie beurteilen, und ich glaube, genauso ernsthaft wie die Kollegen in Wuppertal arbeiten auch unsere Tänzer. Nur die Perspektive der Möglichkeiten muss jetzt noch größer werden. Denn wenn sie Petipa tanzen oder Neoklassik oder Cranko, Neumeier, Kilian, Forsythe, Ek – dann ist das schon eine sehr weite Perspektive. Jetzt müssen sie noch einen Schritt weiter gehen in der Öffnung und in der eigenen inneren Zugänglichkeit. Ja, es ist ein Risiko, aber so, wie ich die Kollegen vom Tanztheater verstanden habe, wissen sie auch, dass das Stück zwar eins zu eins übertragen wird, aber es wird nicht eins zu eins wirken.
Es gibt auch kritische Stimmen, die behaupten: Man kann diese jüngeren Stücke von Pina Bausch gar nicht weitergeben, ohne dass etwas Entscheidendes verloren geht. Was entgegnen Sie darauf?
Liška: Ich kenne sie nicht (lacht), und wenn ich sie kennen würde, würde ich sagen: Lass uns doch sehen. Wir versuchen jetzt nicht, die Brücke über den Ärmelkanal zu bauen, wir machen eine Erfahrung. In jedem Unternehmen ist die Möglichkeit eines Scheiterns beinhaltet, aber davon gehen wir erstmal überhaupt nicht aus. Ich glaube, die Kollegen vom Tanztheater Wuppertal wissen um die Poesie und Substanz der Stücke genau Bescheid. Sie sind sehr gefühlvoll, sie werden es aus den Tänzern herausarbeiten können. Nun ja, wir werden bestimmt Lampenfieber haben, aber das ist nicht Scheitern. Wir sind jedenfalls gerne dabei behilflich, durch die hiesige Einstudierung zu sehen, ob es möglich ist, die Werke von Pina Bausch außerhalb des Tanztheater Wuppertal am Leben zu halten. Wenn sich eines Tages ein dummer Politiker entschließt, das Tanztheater Wuppertal anders zu behandeln als jetzt, dann stellt sich doch die Frage: Was passiert danach? Wenn die Werke woanders aufgeführt werden sollen, dann weiß man, was in der Zukunft möglich sein wird. Wir haben es bei Merce Cunningham erlebt, der sagte: Nach meinem Tod sollen meine Werke nicht mehr aufgeführt werden. Wir haben sein Stück „Biped“ gemacht – und es war phänomenal. Es geht, wenn es ernsthaft und inspirierend gemacht wird. Das versuche ich, in diese Richtung habe ich die Kompanie immer geleitet.
Das Gespräch führte Anne-Kathrin Reif