Interview mit Tjitske Broersma, 20.1.2019
In ihrem letzten Jahr an der Tanzakademie Rotterdam sah Tjitske Broersma Pina Bausch und Jean Cébron in Rotterdam auf der Bühne – ein Erlebnis, das ihren Weg als Tänzerin entscheidend prägte. Ermutigt von ihrer Lehrerin Ineke Sluiter, an der Folkwangschule zu studieren, trat sie bald dem Folkwang Tanzstudio bei und wirkte an frühen Produktionen wie Im Wind der Zeit und Tannhäuser Bacchanal mit. Broersma erinnert sich an die Präzision und Liebe zum Detail, die Bauschs Probenarbeit kennzeichneten, wo – wie sie es ausdrückte – „a detail is more than a detail“ und selbst die kleinste Bewegung ebenso viel Gewicht hatte wie eine weit ausholende Geste. Sie beschreibt eine Arbeitsweise, die vom Oberkörper und den Armen ausgeht, von räumlichem Bewusstsein geprägt ist und sich durch Wiederholung statt durch feste Pläne entwickelt – ein früher Einblick in den unverwechselbaren Stil, der später Bauschs Arbeit am Tanztheater Wuppertal prägen sollte.
Interview in englischer Originalsprache mit deutschen Untertiteln
© Pina Bausch Foundation
| Interviewte Person | Tjitske Broersma |
| Interviewer:in | Ricardo Viviani |
| Kamera | Sala Seddiki |
Permalink:
https://archives.pinabausch.org/id/20190120_83_0001
1. Familie und Ausbildung
Kapitel 1.1
Rotterdams Danscentrum
Ricardo Viviani:
Lass uns am Anfang beginnen, was immer ein guter Start ist. Kannst du uns etwas über deine Tanzausbildung erzählen?
Tjitske Broersma:
Warum habe ich angefangen zu tanzen? Weil ich eine sehr schlechte Körperhaltung hatte und meine Mutter sagte: „Okay, du gehst entweder zum Ballett oder zu Mensendieck.“ Das ist eine Art Körperarbeit, sodass man gerader wird usw. Ich fand heraus, dass ich das in dem Mensendieck [System] in meinem Höschen und Unterhemd machen muss. Und ich dachte: „Nein, das will ich nicht. Ich gehe zum Ballett.“ Ich wusste nicht, was Ballett ist. Okay, wir werden es herausfinden. Ich fing also an, Ballett zu tanzen. Es war wunderbar und ich habe weiter gemacht. In den Sommerferien habe ich gearbeitet und gespart, damit ich alle meine Kurse bezahlen konnte. Dann war für meine Ballettlehrerin klar: „Du wirst an die Akademie gehen, wo du eine gute Ausbildung bekommst. Ab jetzt zahlst du nur für eine Stunde und der Rest ist kostenlos. Du kommst, wann immer du willst.“ Also, das war wunderbar. Dann hatten wir eines Tages einen Auftritt in Leiden in den Niederlanden, und sie sagte zur Presse: „Sie müssen über sie schreiben.“ „In Ordnung.“ Danach ging sie zu meiner Mutter und versuchte meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich eine Tanzausbildung machen sollte. Meine Mutter war nicht begeistert. Doch, sie wollte es schon, aber zuerst musste ich die High School beenden. Okay. Danach war ich an der Akademie und es war wunderbar. Ich habe in meiner Amateurzeit modern getanzt, weil meine Lehrerin auch von der Rotterdamer Tanzakademie kam, die auf modern dance ausgerichtet ist. Ich war mit Jazz- und modern dance schon vertraut.
Ricardo Viviani:
Was für eine moderne Ausbildung gab es zu der Zeit an der Akademie?
Tjitske Broersma:
Zu meiner Zeit lehrte Ineke Sluiter die amerikanische Martha-Graham-Technik und Dorle Hoffman, die von der Wigman-Schule kam, brachte den Wigman-Stil ein. Das waren sehr organische und schöne, runde Bewegungen. Sodass ich so etwas schon kannte, als ich zu Pina kam. Es war mir nicht fremd.
Ricardo Viviani:
Irgendwann kamen Pina Bausch und Jean Cébron und traten auf. Erinnerst du dich daran?
Kapitel 1.2
In Wind der Zeit
Tjitske Broersma:
JA! Das war im De Rotterdamse Schouwburg. Das war ein Augenöffner. Ich wusste nicht, wer sie waren. Du sitzt da und siehst eine andere Welt. Das war eine Art von Bewegung, die ich nicht kannte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Weder von einer anderen Kompanie noch von irgendjemand anderem. Es hat mir wirklich die Augen geöffnet und ich dachte: „Das möchte ich machen!“ Ich war in meinem letzten Jahr an der Akademie und wusste wirklich nicht, wie es weiter gehen sollte. Okay. Nationales Ballett? Nein, klassisch. Ich bin kein klassischer Typ. Nederlands Dans Theatre? Ich bin nicht gut genug. Was gab es sonst noch? Da war noch diese Frau, die an der Akademie die amerikanische Martha-Graham-Technik vermittelte [Ineke Sluiter] und eine neue Kompanie gründete. Also dachte ich, das sei vielleicht eine Chance. Ich wusste es noch nicht. Es gab noch einige kleine Gruppen: Bianca van Dillen war auch da. Aber als ich Pina Bausch und Jean Cébron sah, dachte ich: „Das ist es!“ Also fragte ich meine Lehrerin Ineke Sluiter: „Wo finde ich das?“ Sie kannte Pina Bausch aus Amerika. Ineke wusste, wo Pina Bausch war: „Sie ist an der Folkwangschule.“ Und ich sagte: „Okay, ich kann dort studieren.“ „Ja, das könntest du.“ So blieb ich längere Zeit dort, um zu lernen – als Schülerin, als Studentin. Wir fuhren mit mehreren Mädchen aus der Klasse dorthin und haben den ganzen Tag Unterricht genommen. Es war wunderbar. Es gab auch klassisches Training, und zwar von Hans Züllig, und ich glaube auch von Jean Cébron, da bin ich mir nicht so sicher. Pina Bausch dachte, ich wäre da, um für das Folkwang Tanzstudio vorzutanzen. Ich dachte, ich mache eine Aufnahmeprüfung für die Schule. Sie saß dort mit Hans Züllig. Ineke Sluiter saß auch dort. Nun, ich war überhaupt nicht nervös. Ich hatte einfach Spaß an dem, was ich tat. Und es gab viele Dinge, die ich nicht verstand. Als wir an der Seite standen, – denn wenn man das Training in zwei Gruppen teilt, steht eine Gruppe an der Seite. Du weißt natürlich alles darüber – dann fragte ich Marlis Alt, „wie geht diese Bewegung? Geht es so oder so oder? Und Marlis hat es mir die ganze Zeit gezeigt. Ich war so eifrig, und Pina hat das gesehen, sie dachte: „Ich will sie in der Kompanie haben.“ Das wusste ich nicht. Also ging ich nach Hause und Ineke sagte: „Du musst nicht für meine Kompanie vortanzen. Du bist dabei, und — für die Abschlussprüfungen hatte ich ein modernes Solo gemacht — das wird auf dem Repertoire stehen.“ So hat sie mich irgendwie hineingelockt. Ich dachte: „Ja, es ist auch schön, in einer neuen Kompanie zu sein.“ Sie versprach uns, dass wir auch kreativ sein könnten. Also könnte ich vielleicht mehr machen. Ich entschied mich dafür und bekam einen Vertrag für zwei Jahre. Dann kam Pina Bausch zu uns. Zur Premiere gab es Lucas Hoving mit dem Stück „Icarus“, Pina Bausch mit Im Wind der Zeit, und Ineke Sluiter, ich glaube, es war „Water Music“ von Händel. Ich glaube, es gab noch ein anderes Stück von Ineke: „Ariadne“? Aber ich bin mir nicht so sicher. Ich habe Kollegen gefragt und sie haben sich auch nicht erinnert. Oder war es „Evolution (?)“ von Bianca van Dillen. Bianca van Dillen war eine junge Choreografin in Holland und ging nach Amerika, kam zurück und gründete eine Kompanie.
Ricardo Viviani:
Schließlich kam auch noch jemand anderes in die Kompanie: Ed Kortlandt. War er auch im selben Jahr wie du dort?
Tjitske Broersma:
Er war auch in dieser Kompanie von Ineke Sluiter in Rotterdam. Wir hatten einen Vertrag über zwei Jahre, und danach war mir klar: „Jetzt gehe ich zu Pina Bausch“. Ed Kortlandt blieb ein weiteres Jahr, also blieb er drei Jahre bei Ineke Sluiter, und dann ging er zur Martha Graham Company. Weil er, sozusagen, von Mary Hinkson entdeckt wurde. Das war an der Sommerakademie in Köln, dort haben wir Unterricht bei Hinkson gehabt.
Ricardo Viviani:
Wie können wir uns so ein Sommerfestival vorstellen? Hast du in einem Studentenwohnheim gelebte, und drei oder vier Unterrichtsstunden am Tag gehabt?
Tjitske Broersma:
Ja, es war sehr intensiv. Es war so, wie du sagst. Ich habe immer vier Stunden trainiert, weil ich das Beste daraus machen wollte. Ich habe klassisches Ballett bei Jules Yoac genommen (... ?), und Mary Hinkson, auch Lynn Simonsson für Jazz. Am Ende hat Hans van Manen ein Duett einstudiert, das ich mit Ed Kortlandt gemacht habe. Ich erinnere mich, dass in einem anderen Jahr jemand anderes für Partnering da war, aber es war eher eine Art Workshop. Also, wir lernten Stücke aus ihren eigenen Balletten, so wie von Hans van Manen, und so konnten wir das Partnering lernen. Dann hast du gegessen und bist ins Bett gegangen. Und am nächsten Tag wieder: Plié. Ja!
Kapitel 1.3
Folkwang Tanzstudio
Tjitske Broersma:
Als ich kam, gab es drei Stücke: Nachnull, Im Wind der Zeit und ich glaube, da war auch etwas von Jean Cébron. Ich erinnere mich, dass wir so viele Einzelproben gehabt haben, Pina und ich, immer wieder. Sie wollte, dass ich all diese Stücke gleichzeitig lerne. Eines Tages arbeiteten wir und sie fing an zu lachen. Sie fing an zu lachen: „Was machst du?“ „Nun, ich weiß es nicht. Was habe ich getan?“ Ich hatte beim Tanzen mit einem Stück von Pina angefangen, war dann zu Jean Cébron übergegangen, dann zu Lucas Hoving und dann wieder zu Jean. Ich hatte also Teile von all diesen Balletten genommen und durcheinandergemischt, weil ich mich nicht mehr an die richtige Reihenfolge erinnern konnte. Also habe ich alle Teile vermischt. Pina hat das gesehen und war total verblüfft. „Was machst du da?“ Es war so lustig. Wir haben gelacht. „Okay, eins nach dem anderen“, hat sie gesagt.
Kapitel 1.4
Nachnull
Ricardo Viviani:
Nachnull. Erinnerst du dich an den Prozess? Weil Nachnull ein ganz bestimmtes Kostüm hat und die Bewegungen etwas ganz Besonderes sind.
Tjitske Broersma:
Ich habe die Rolle von Susanne Linke gelernt habe, weil Susanne damals schon weg war.
Kapitel 1.5
Wiegenlied
Ricardo Viviani:
So, which piece did you first started creating?
Tjitske Broersma:
Ich glaube, es war Wiegenlied, danach Aktionen für Tänzer und dann Tannhäuser Bacchanal. Wiegenlied Oh, [schwierig]! Die Männer hatten schwere Stiefel wie Soldaten, weißt du? (stampft), wir Mädchen hatten nackte Füße und wir waren so verletzlich. Das hat uns nicht gefallen. Nein. Ich kann mich nicht so gut an die Bewegungen erinnern, komisch. Aber diese Situation, so schutzlos zu sein, hat mir nicht so gut gefallen.
Ricardo Viviani:
Was die Komposition angeht – nachdem wir diese Fotos angeschaut haben – ähnlich wie Im Wind der Zeit, ihr erstes Stück in Rotterdam, hat auch dieses Stück eine sehr plastische Komposition.
Tjitske Broersma:
Ja. Nachnull hatte das auch, eine plastische Komposition. Ja. Ich glaube nicht, dass Wiegenlied das hatte. Nein.
Kapitel 1.6
Tannhäuser Bacchanal
Ricardo Viviani:
So langsam kommen wir mit Tannhäuser Bacchanal nach Wuppertal. Erinnerst du dich, wie diese Zusammenarbeit mit Arno Wüstenhöfer begann? Erinnerst du dich, wie er nach Essen-Werden kam?
Tjitske Broersma:
Ich glaube, Pina Bausch war sich nicht sicher, ob sie hier arbeiten wollte. Wir haben darüber gesprochen, auch mit Rolf Borzik, und sie sagte: „Es ist so ein großer Apparat und du musst dies und das machen. Du hast mehr Dinge, auf die du achten musst, anstatt eigene Kreationen zu machen.“ Und wir mussten Operetten spielen. Also war sie nicht so sicher. Aber Arno Wüstenhöfer überredete sie, er wollte sie unbedingt. Er hat diese beiden Choreografen gebeten, ein Stück zu machen. Das war Aktionen für Tänzer. Es hat ihm sehr gut gefallen, was Pina machte, und daraufhin bat er sie, das Tannhäuser Bacchanal zu machen. Danach war für ihn wirklich klar, sie muss hier die „Ballettmeisterin“ werden. Tannhäuser Bacchanal, ich erinnere mich, die Bühne war wie eine Hügellandschaft aus Kunststoff.
Tjitske Broersma:
Das Gemeine war, dass es so dicke Schnüre gab, wie Linien, so hoch (zeigt). Es war schmerzhaft, wenn du ausgerutscht bist. In Pinas Stücken gab es viele Stellen, wo wir rutschen mussten. Aber, wir steckten fest. Dann haben wir die weggenommen. Freche, freche Menschen waren wir. Ed Kortlandt war dabei, nein, er war immer noch in Rotterdam, aber ich sagte zu ihm: „Weißt du, ich finde überhaupt nicht, dass das erotisch ist, ich glaube das nicht.“ Und dann kam er, um die Aufführung anzusehen, und sagte: „Hast du wirklich keine Ahnung? Das ist doch so erotisch!“ „Oh, tatsächlich?“ „Ja.“ Also, es war lustig, weißt du. Du kannst dich einfach nicht immer selbst sehen.
Ricardo Viviani:
Das ist etwas, worüber ich gerne sprechen würde. Tänzer zu sein innerhalb eines Stücks, zu tun, was man tun muss, gegenüber diesem Blick von außen. Weil die Zuschauer manchmal nicht wissen, was du weißt, wenn du auf der Bühne stehst. Vielleicht kannst du das beschreiben.
Tjitske Broersma:
Ja, ja. Ich erinnere mich auch daran, dass ich vor jedem Auftritt so nervös war, als ich in der Kompanie anfing. Das gefiel mir nicht, ich war mir wirklich nicht sicher, ob ich das machen wollte. Wenn Tanzen so ist, so so so nervös zu sein, dann bin ich mir nicht sicher. Aber mit Pina zu arbeiten, als sie nach Rotterdam kam, war eine ganz andere Art zu arbeiten. Es war immer wie „nochmal, bitte!“. Sie arbeitete sehr präzise. Sie wusste, wo alles sein soll, sogar meine Hand, mein Kopf. Alles. Also, das gibt dir Sicherheit. Okay. Du weißt, es gibt einige knifflige Momente, die eine spezielle Technik erfordern, aber ich weiß damit umzugehen. Ich weiß, wie das geht. Das gibt dir Vertrauen. Und diese Momente werden kommen, aber du gehst hindurch. Es ist nicht so, dass du panisch denkst: „Oh nein. Nein, hör auf! Nein, nein.“ Du weißt, dass es kommt. Du gehst da durch und es ist richtig so, weil du einfach akzeptierst, dass es okay ist, das zu tun. Du schaffst es. Das war also eine große, große, große Sache für mich. Dann war für mich klar, ja, ich will Tänzerin werden, und so ist es gekommen. Mit ihr habe ich am stärksten erfahren, wie wichtig es ist, dem, was man tut, zu vertrauen. Das hatte ich nie mit anderen Choreografen. Entweder sie lassen dir etwas Spielraum oder sagen: „Da drin kannst du entscheiden.“ Aber bei Pina – nein, du machst, was sie verlangt. Ein Detail ist kein Detail. Ein Detail ist genauso wichtig wie eine große Bewegung. Wenn ich meine Finger so mache, ist das kein Detail. Nein, es ist genauso wichtig, ob es so oder so ist (zeigt), es hat eine Form. Alles hat eine Form, denn auch das ist für sie sehr wichtig: die Form. Sie war auch auf der Suche nach Schönheit. Sie sagte öfter: „Es soll schön sein!“ „Ja, das sieht schön aus!“ „Ja, das ist gut!“ Immer dieses Wort „schön“. Deshalb ist ihr auch der ästhetische Aspekt sehr wichtig. Es geht nicht nur um die Technik, sondern auch um die Ästhetik und natürlich um die Qualität der Bewegung. Das sehr präzise sein sollte. Das siehst du auch später in ihren Stücken – ich war schon nicht mehr da – es gibt eine Szene, in der die Tänzer einer nach dem anderen auf die Bühne kommen und etwas tun, dann stehen sie da und wiederholen es, dann gehen sie alle weg. Sie wiederholen es, und es ist genau dasselbe. Und das wirst du in einer anderen Kompanie mit einem anderen Choreografen nicht sehen. Das wirst du nur bei Pina Bausch sehen. Das muss dasselbe sein, sonst ist es anders. Sie sagte: „Es ist anders, dann hat es auch eine andere Bedeutung.“ Das ist so wichtig.
Ricardo Viviani:
Genau zu wissen, wie es geht und diese Präzision zu haben, hat dir das ein Gefühl von Freiheit gegeben? Du wurdest frei, ganz darin aufzugehen,
Tjitske Broersma:
Genau das. Es gibt dir auch eine Freiheit, die es dir ermöglicht, dich zu bewegen – sonst würdest du den Fluss der Bewegung verlieren. Diese Freiheit schenkt dir den Fluss, der durch den Körper und den Raum geht. Es ist also gleichzeitig frei. Es ist nicht so, dass man denkt: Ich muss ganz präzise sein (zeigt). Nein, es ist präzise, aber zugleich fließend. Es ist Tanzen. Wenn es nicht tanzt, vergiss es. Dann wird sie arbeiten, bis es anfängt zu tanzen.
Ricardo Viviani:
Das Frühlingsopfer ist etwas, dass diese Präzision verlangt, gleichzeitlich hat es auch die Unsicherheit des Bodens.
Tjitske Broersma:
Furchtbar. Ich musste neu lernen, wie man ein Relévé macht. Es ist natürlich nicht so dramatisch.
2. Tanztheater Wuppertal
Kapitel 2.1
Tanztheater Wuppertal
Ricardo Viviani:
Ich habe tatsächlich etwas übersprungen. Weil wir über Präzision und Freiheit gesprochen haben, über den Umgang mit den Dingen, die passieren. Aber eigentlich wollte ich über Fritz sprechen.
Kapitel 2.2
Fritz
Tjitske Broersma:
Fritz. Oh, ich habe auf YouTube einen kleinen Beitrag gesehen, und ich dachte, was für ein verrücktes Stück das war. Verrückt. Und all diese seltsamen Wesen. Und ich war eine Person… wie sagt man, dass man zwei Geschlechter in sich hat?
Tjitske Broersma:
Hermaphrodit, ja. Rolf Borzik wollte mich mit einem großen Penis versehen, und die Mädchen in der Kompanie waren schockiert. „Das kannst du nicht machen! Das ist furchtbar! Das ist vulgär!“ Nun, so groß war er dann gar nicht (lacht). Ja, das war ein Schock für sie. Später habe ich auch die Rolle der Großmutter übernommen. Es war knifflig, das zu machen, weil sie zuerst sitzt und sie dann immer größer wird. Sie hatte diesen Rock, der die Beine versteckt, und dann kommt von unten – die Bühne geht ein wenig runter, das ist möglich hier in diesem Theater – Hans Pop zwischen deine Beine, du stehst auf und wirst immer größer. Aber dieser Moment war knifflig, weil du weit vorne sitzen musst, wenn sein Kopf kommt, sonst fällst du nach hinten. Aber das ist okay, das gefällt mir. Was mir daran gefällt, ist, dass du nicht zeigst, dass es ein Trick ist. Das zeigst du nicht: „Oh, nein. Jetzt passiert es!“ Nein, du bleibst in deiner Rolle und du kannst damit umgehen und wachsen. Das gefällt mir! Ja.
Ricardo Viviani:
Für Pina war Bausch war es ihr allererster Abend in einer solchen Umgebung – neben Agnes de Mille und Kurt Jooss.
Tjitske Broersma:
Ja, es war eigentlich ein seltsames Stück zwischen den anderen beiden.
Ricardo Viviani:
Hast du die anderen beiden Stücke getanzt? Beide: Rodeo und Der Grüne Tisch. Das muss auch ein Schock gewesen sein.
Tjitske Broersma:
Für das Publikum war Fritz ein Schock. Nicht die anderen Stücke. Ich meine, Rodeo ist nett, es wird viel getanzt. Jooss ist natürlich ein Klassiker. Ich weiß nicht, ob das hiesiges Publikum Kurt Jooss kannte. Da wird auch getanzt, richtig getanzt in in dieser ersten Szene – der Tischszene – sehr interessant. Aber bei Fritz kann ich mir vorstellen, dass sie nicht wussten, was sie damit anfangen sollten. Wie man es betrachten kann. Was ist das? Was will sie? Weißt du, ich kann mir vorstellen, dass ihnen solche Gedanken durch den Kopf gingen. Und dann, als die Oper kam –Iphigenie auf Tauris, da war es schön – wunderschöne Tänze und Szenen. Sie waren an die Oper gewöhnt. Also, sie waren Szenen und Gesang gewöhnt, und hier gab es Szenen und Tänze, nicht weit weg von dem, was das Publikum schon kannte.
3. Repertoire
Kapitel 3.1
Auszeit und Repertoire
Tjitske Broersma:
Danach war ich für kurze Zeit nicht in der Kompanie. Ich nahm eine Auszeit und habe keine Uraufführung mitgemacht. Später, als ich zurückkam, musste ich Ich bring dich um die Ecke natürlich lernen.
Ricardo Viviani:
Orpheus und Eurydike auch?
Tjitske Broersma:
Ja.
Ricardo Viviani:
Dann kommen wir zum Strawinsky-Abend.
Tjitske Broersma:
Ja. Und natürlich bei der Entstehung der Opern. Nur Mahler [Adagio] habe ich nicht gemacht.
Ricardo Viviani:
Gerhard Bohner kam zu Folkwang und hat auch eine Arbeit gemacht.
Tjitske Broersma:
Ja. Das hat mir nicht gefallen, nein: Malade Imaginaire. Arme Pina, eingewickelt in all diese Bandagen. Sie hasste das! Das kann ich mir gut vorstellen. Als sie geprobt haben, durften wir nicht zuschauen. Wir haben es gesehen, als wir zusammengearbeitet haben. Und ich dachte: „Oh ja, du bist wirklich arm dran mit all diesen blöden Bandagen und Einschränkungen.“ Die Choreografie war nicht interessant. Nein.
Kapitel 3.2
'Macbeth'
Tjitske Broersma:
Das letzte Stück, in dem ich mitgespielt habe, war "Macbeth", aber nicht auf der Bühne. Während der Proben von "Macbeth" kündigte ich ihr an, dass ich gehen wolle. Dann haben wir uns drei Tage lang ausgetauscht. Sie wollte, dass ich bleibe, sie bot mir an, dass ich ihre Assistentin sein könnte. Aber nein, ich entschied mich zu gehen. Nach dem dritten Tag kam Rolf Borzik zu mir und sagte: „Sie will, dass du gehst.“ Also, ich war raus aus dem Stück. Es war ein sehr mühsamer Prozess. Der Proberaum war sehr kalt, schließlich haben sie Heizlüfter gebracht, dann hatte man den Lärm. Sie hatte eine harte Zeit, es fiel ihr schwer, mit dem ganzen Thema umzugehen. Wir improvisierten viel. Sie hat viel von uns verlangt, das hatte mir natürlich immer gefallen. Das fing übrigens mit "Blaubart" an. Aber hier hat es mir nicht gefallen, weil es eine negative Atmosphäre hatte. Ich musste Dinge tun, wie etwa Leute fertigmachen. Zum Beispiel, als Jan Minařík auf dem Boden lag und die Mädchen ihn verführten und fluchten und dann sagte sie: „Okay, Tjiske, jetzt mach ihn fertig“ (lacht). Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Den Kerl fertig machen? Den Kerl töten? Es ist nicht gut gelaufen. Ich kann sehr stark sein. Ich kann sehr, sehr stark sein. Ich kann Leute fertig machen. Aber in diesem Moment hat es bei mir nicht funktioniert. Es funktioniert nicht immer. Selbst wenn man weiß, es geht – wir sprachen ja gerade über das Schauspielen – funktioniert es nicht immer. Etwas hat mir gefehlt.
Kapitel 3.3
'Blaubart'
Ricardo Viviani:
Ich habe Die sieben Todsünden und Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg" übersprungen. Erzähl uns etwas darüber.
Tjitske Broersma:
Oh, mein Favorit! Das mache ich gern. Ich mochte es sehr, weil sie in „Blaubart“ nur ein paar Leute gebeten hat, mit ihr zu arbeiten. Das war das erste Mal, dass wir Fragen beantwortet haben, die sie mitbrachte. Wir haben im Studio von Jan Minařík gearbeitet, sodass wir voneinander getrennt waren. Wir waren vielleicht vier oder fünf Leute dort, eine kleine Gruppe, und ich fand es toll.
Ricardo Viviani:
Welche Art von Fragen gab es zu dieser Zeit?
Tjitske Broersma:
Jan Minařík zu verführen – und das konnte ich sehr gut. Es war eine andere Art der Verführung – diese berühmte Szene, die ich mit der Zunge mache. Und mein allerbester Freund sagte: „Das ist noch obszöner als die Realität.“ Und ich dachte: „Oh Gott, jetzt kann ich das nicht mehr machen.“
Ricardo Viviani:
Erinnerst du dich, wie es zu dieser Szene kam?
Tjitske Broersma:
„Macht mal etwas mit der Puppe.“
Ricardo Viviani:
„Mach etwas mit der Puppe.“
Tjitske Broersma:
Also habe ich die Puppe verführt. Um Jan Minařík zu verführen, habe ich die Puppe verführt. Für mich war da eine gewisse Logik drin. Wir haben einige schauspielerische Dinge gemacht. Eine bunte Mischung von Dingen. Für uns gab es nicht so viel Tanz. Für Marlis ja. Es gab den Tanz mit den Bettlaken, das war wirklich getanzt, aber ich war nicht in den Bettlaken-Szene.
Ricardo Viviani:
Hat dich das damals gestört, dass nicht so viel getanzt wurde?
Tjitske Broersma:
Nein. Mir hat es gefallen.
Ricardo Viviani:
Aber viele Leute sind gegangen.
Tjitske Broersma:
Sie sind gegangen, ja. Aber mir hat diese Entwicklung gefallen. Ich habe es als eine Entwicklung gesehen – als ein Teil der Suche. Man probiert Sachen aus, Pina probiert es aus, und irgendwann kommt wieder Bewegung hinzu. Davon war ich überzeugt. So war es auch – aber man muss erst durch eine andere Phase gehen, um wieder dorthin zurückzukommen. Und das war eine andere Phase für sie. Und ich liebe es, zusammenzuarbeiten und auch selbst Dinge auszuprobieren
Ricardo Viviani:
Ihr habt in Jan Minaříks Studio geprobt. Wie kam das? Lag es daran, dass es nicht genug Proberäume gab?
Tjitske Broersma:
Nein, es war eher so, dass sie allein sein wollte. Sicher sein zu können, dass niemand das Studio betrat. Einfach so. Denn wenn du hier in der Oper arbeitest, kann natürlich jeder ins Studio hineinkommen. Und sie wollte wirklich für sich sein. Nur ein paar Leute, und dann mit Ideen spielen. Ja. Jan Minařík hatte eine Schule, also bot er seine Schule an. Er sagte: „Oh, wir können an meiner Schule arbeiten.“ „Okay, großartig.“ Ja.
Ricardo Viviani:
Irgendwann kam dann [die Lichtburg
Tjitske Broersma:
Hier war der Probenraum so klein. Mein Gott! Kannst du dir die Opern vorstellen? Kannst du dir „Sacre“ vorstellen? Verrückt, aber wir haben es geschafft. Und dazu hat sie die ganze Zeit geraucht.
Ricardo Viviani:
Das hatte auch eine große Bühne. Hatte das einen Einfluss auf die Arbeit unten auf dem Boden? Es gab viele Gruppenszenen.
Tjitske Broersma:
Ja, die Reihen mit den sitzenden Mädchen, die Sofas und ein riesiger weißer Berg aus Styropor. Wie Berge. Jo Ann Endicott steht da, richtig? Nein, das hier ist Mari Di Lena, wie sie die Briefe liest. Es gab lustige Dinge. Aber wenn du vom Boden sprichst, war auch „Blaubart“ eine Katastrophe, weil es inmitten all dieser Blätter kleine Äste gab. Und da hast du dir wieder die Füße verletzt. Ich kann mich erinnern, dass Jan Minařík und ich die ganze Bühne inspiziert haben. Wir haben die Zweige und Tiere eingesammelt. Es gab Tiere wie Spinnen. Ich erinnere mich an den Auftritt der Mädchen, von der rechten Seite nach hinten – es gab Löcher in den Wänden, sodass die Frauen hochklettern konnten – wir kamen vorbei und ich sah, dass in meinem Loch eine große Spinne war. Ich hatte Angst von Spinnen. Oh nein! Okay. Als der Moment kam und ich rannte – du musst rennen – „Wo ist die Spinne, wo ist die Spinne?“ Ich habe gesucht und da war keine Spinne. Aber trotzdem hast du Angst, dass sie, wenn du dort bist, von hinten deine Füße hochkrabbeln. Ich hasse Spinnen! Also, da gab es Zweige und Spinnen! In Die sieben Todsünden ist der Boden natürlich wunderschön. Er [Rolf Borzik] hat ihn aus einem Abdruck von einer Straße gemacht, aber das war rutschig und hart. Oh nein! Es war sehr unangenehm, sehr unangenehm. Mir wurden zu große Schuhe gegeben, deswegen fiel es mir wirklich schwer, einfach auf den Beinen zu bleiben. Es war sehr unangenehm. Ich frage mich, wie es den Leuten jetzt geht, in Stücken mit all dem vielen Wasser auf der Bühne. Ich weiß es nicht.
4. Über das Tanzen
Ricardo Viviani:
Hast du in dieser Gegend gewohnt, in der Nähe der Arbeit?
Tjitske Broersma:
Ganz in der Nähe der Heinrich-Janssen-Straße. Wir sind zu Fuß gegangen.
Kapitel 4.1
Arbeitsweise
Ricardo Viviani:
Was war mit den Arbeitszeiten? Normale Theaterzeiten: von 10 bis 14 und 18 bis 22 Uhr, war das streng? Oder eher flexibel?
Tjitske Broersma:
Nee. Von zehn bis zwei, und oft bis halb drei, weil sie immer "nur noch das" sehen wollte. Und Hans Pop sagte dann: „Pina, wir müssen jetzt aufhören.“ Und abends sechs bis zehn. Zwischendurch machten wir immer eine Stunde ein Nickerchen, sonst schaffst du es nicht, es war zu schwer, es war verrückt. Aber sie wollte es so, weißt du, sie wollte es. Warum? Weil sie zwischendurch arbeiten wollte. Dann konnte sie die Bewegung kreieren. Heutzutage machen die Tänzer die Bewegung, aber zu dieser Zeit hat sie alle Bewegungen choreografiert. Also musste sie die erstmal entwickeln. Dafür war diese Pause da – eine lange freie Zeit für sie. Das war der Grund, warum wir diese Arbeitszeiten hatten.
Ricardo Viviani:
Und auch für „Blaubart“? Hat sie die Bewegungen gemacht?
Tjitske Broersma:
Nun, was an Bewegungen da war – nicht die schauspielerischen Dinge, nur das Tanzen. All das Bewegungszeug mit Marlis Alt (zeigt), weißt du? Oder mit den Mädchen, dass sie wollte, dass wir unsere Haare zählen. Dass sie eine Aufgabe gestellt hat. Es war also nicht wie: „Mach etwas mit deinen Haaren.“ Nein. „Zähle deine Haare.“
Ricardo Viviani:
Gibt es etwas Spezifisches an Pinas Bewegungen oder ihrem Tanzstil? So dass du, wenn du es siehst, denkst — „Nun, das ist Pina“. Kannst du etwas beschreiben, war so einen Fingerabdruck hinterlassen hat?
Tjitske Broersma:
Das sollte ich können (lacht). Es war sehr organisch. Und in vielen Körperteilen. Oder wo fängt die Bewegung an? (zeigt) Beginnt sie an der Schulter und geht dann weiter. Oder fängt es wirklich von hier an? (zeigt) Oder am Handgelenk? Also wo im Körper fängt es an? Das ist sehr wichtig. Und dann natürlich, wie geht es im Raum weiter? Das ist sehr präzise. Es gibt auch Dinge, wozu du deinen Körper zwingen musst, wie in Nachnull. Dieser Arm (zeigt) – ich schaffe das nicht mehr – der Arm geht hinter deinen Kopf. „Noch weiter, weiter!“ forderte sie, sie war sehr anspruchsvoll. Sie wollte immer, dass es größer oder kleiner ist. Großzügigkeit in der Bewegung zeigen: groß ist groß. Runde Bewegungen waren typisch für sie. Der Fokus lag eher im Rumpf und in den Armen, die Beine waren wirklich zweitrangig. Das war interessant für mich zu sehen, dass, wenn die Tänzer ihre eigenen Sachen machten, mehr die Beine dazukommen, mehr Bodenarbeit, mehr Springen. Bei ihr war es viel mehr der Rumpf.
Ricardo Viviani:
Gab es eine Trennung im Oberkörper und in den Armen, räumlich innerhalb des Raumes?
Tjitske Broersma:
Ja, Isolationen! Aber immer mit einem Bewusstsein der anderen Körperteile (zeigt). Es ist nicht nur: hier ist mein Arm, sondern es geht immer um Beziehungen zueinander, um räumliche Spannungen. Wenn die Hände so zueinander waren (zeigt), spürst du die räumliche Spannung dazwischen? Es ist nicht wie: „Ich mache diese Form“ (zeigt). Sondern „Hast du den Raum gespürt?“ Oder wenn sie eine Hand so hinlegt (zeigt). Hast du gespürt? (Pause) Es besteht eine Verbindung. Es ist nicht so: „Ich lege meine Hand hierher und vernachlässige die andere Seite.“ Beide Seiten tun etwas. Wenn ich das mache (zeigt), macht mein Körper auch etwas: Es gibt eine räumliche Verbindung. Das ist auch wichtig für sie: dieses Bewusstsein.
Ricardo Viviani:
Bewusstheit. Das ist das Wort, nach dem ich gesucht habe. Bewusstheit in dem Maße, dass man, während man es tut, sich bewusst ist, wohin alles andere führt. Weil du danach und davor viel Erfahrung mit verschiedenen Lehrern hattest: Könntest du verschiedene Denkweisen über Tanz identifizieren, wie Laban/Jooss, Hans Züllig oder den Amerikaner Limón und all das? Könntest du diese Art von Einflüssen zuordnen?
Tjitske Broersma:
Ja. Obwohl sie viele hatte... – Wie war sein Name? – Antony Tudor. „Von Antony Tudor habe ich viel gelernt“, sagte sie. Ich weiß nicht was. Ich habe sie nie gefragt. Aber das war eine sehr wichtige Person für sie.
Tjitske Broersma:
Man lernt ja immer aus allen Stilen. Sie hat auch Martha Graham gemacht. Sie hat aus allem gelernt. Und bei Graham – nun, Mary Hinkson hat immer gesagt: ‚Spür den Rücken. Spür den Rücken. Wenn du dich öffnest, spür den Rücken‘ (zeigt). Es ist nicht so, dass man sich öffnet und nur vorne etwas fühlt. Nein, es geht wieder um Gegensätze. „Das“ funktioniert mit „dem“, und das funktioniert damit (zeigt). Sie wirken zusammen, und das macht die Bewegung voller, intensiver und auch interessanter. Ich glaube, das ist auch etwas, das dir Sicherheit gibt. Weil es dein Wissen darüber erweitert, wie man mit dem Körper arbeitet. Es ist ein anderes Wissen, wenn man sich dessen bewusst ist. Auch Malou Airaudo schreit in ihrem Unterricht: „Fühl den Rücken!“ (lacht) Weißt du? Ich habe diesen Satz vorher in meiner Ausbildung nie gehört. Niemals. Meine ganze Ausbildung war so viel eindimensionaler: Ich hatte auch Cecchetti. Ja, oh Gott! Dann habe ich die Aufführung des Tanztheaters gesehen, und sie hatten diese wunderschönen Arme, und ich versuche es im Unterricht zu machen: ‚Nein, so ist es‘ (zeigt).
Tjitske Broersma:
Als ich Amateurtänzer unterrichtete, habe ich auch damit gearbeitet: Versucht, dreidimensionaler zu werden. Das war natürlich auch sehr neu für sie.
Ricardo Viviani:
Tannhäuser Bacchanal und Das Frühlingsopfer sind beides Stücke, in denen die räumliche Gestaltung sehr bedeutend ist. Damit die Tänzer darin wirklich präsent sein können, braucht es ein besonderes Aufmerksamkeit. Wie sah dieses Aufmerksamkeit aus? Nun, am Beispiel von „Sacre“ lässt sich gut über dieses Bewusstsein und das der anderen Tänzer sprechen.
Tjitske Broersma:
Ja. Man braucht schon ein besonderes Bewusstsein, um sich nicht gegenseitig zu schlagen. Wir standen manchmal sehr nah beieinander. Das ist auch eine Fähigkeit, die man als Tänzer entwickelt: Wenn ich hier hinschaue, kann ich dies sehen und ich kann jenes (zeigt) sehen. Und das entwickelt man natürlich im Laufe der Jahre. Das kommt nicht von einem Tag auf den anderen. Sonst müsstest du (zeigt) immer hinschauen. Dumm, nicht wahr? Du weißt genau, wo sich jemand befindet. Ich kann mehr sehen: was dahinter ist und noch mehr. Diese Fähigkeit kann man entwickeln. Und natürlich kannst du manche Menschen spüren. Wenn du nah beieinanderstehst, spürst du die. Da gibt diese Spannung, eine räumliche Spannung zwischen euch beiden. Bei manchen Tänzern hast du das nicht, bei anderen schon. Ich hatte das mit Marlis Alt. Bei ihr fühlte es sich auch gut an. Also, wenn man den Raum hat und eine Form im Raum, und ich mache jetzt nichts mit dem Raum (zeigt) – dann ist es einfach nur eine Form im Raum. Aber ich kann auch dazu kommen, sie mit Energie zu füllen und diese Energie in den Raum hinein zu verlängern. Bei vielen modernen Tänzen sieht man, dass die Energie hier aufhört. (zeigt) Und genau das ist auch typisch für Pina Bausch: Die Energie geht weiter. Es ist nicht nur eine Form im Raum – da ist zwar die Form, aber die Energie setzt sich fort. Und sie kommt von hier (zeigt).
Ricardo Viviani:
Was hat sie für Anweisungen gegeben, um diese Qualität zu erreichen?
Tjitske Broersma:
Sie hat dir keine Anweisungen gegeben, aber sie hat es gezeigt, und da konntest du es sehen. Dann sagte sie vielleicht „weiter, weiter“. Aber das reicht nicht als Anweisung. Später wurde sie dann konkreter. Also, am Anfang haben wir viel geraten und ihr sehr genau zugeschaut. „Also, wie macht sie das?“
Kapitel 4.2
Vermittlung
Tjitske Broersma:
Der Raum ist ein sehr wichtiges Element für sie. Es ist ein sehr wichtiger Aspekt. Menschen in den Raum zu platzieren.
Tjitske Broersma:
Pina Bausch hat nie ausgesprochen, was sie wollte, das war sehr schwierig für sie. Man kann das schwer mit Worten sagen. Außerdem wusste sie nicht, wohin es führen würde. Einmal angefangen, musste es sich in den Proben entwickeln. Sachen wurden ausprobiert und in den Wiederholungen weiterentwickelt. Sie hatte vorab keinen Plan. Es sei denn, du hast ein Thema, wie in den Opern. Sie schaut sich die Musik an. Sie hat mit dem Dirigenten gesprochen, bestimmte Passagen wurden gestrichen. Das ist eine andere Art der Vorbereitung als die Stücke später, die von Grund auf entwickelt wurden, ganz anders. Trotzdem hatte sie immer das Problem zu sagen, wonach sie suchte. Ed Kortland und ich waren traurig darüber, und wir dachten, wir gehen zu Arno Wüstenhöffer, dem Intendanten. „Lass uns zu ihm gehen und mit ihm darüber sprechen. Wie können wir uns ihr nähern?“ Dieser Mann war wie ein Vater für uns. Er war wunderbar, so verständnisvoll. Dann gab er uns ein Beispiel, um etwas über Pina Bausch zu verdeutlichen. Und das war aus einer Szene aus einem Film von Alfred Hitchcock.
Ricardo Viviani:
Bei Anruf Mord
Tjitske Broersma:
Ja. Ich glaube, es ist aus diesem Film, und Grace Kelly spielt darin mit. Sie muss sich hinsetzen, die Kamera läuft, und er stellt sich vor sie hin und sagt: ‚Schau einfach auf meinen Finger, Liebling.‘ (zeigt) Und er bewegt ihn ganz langsam. Dann ist die Szene vorbei. ‚Cut! Kamera stoppt.‘ Und sie fragte: ‚Ist das alles? Ich habe doch gar nichts gemacht.‘ Sie war natürlich überrascht und unsicher, was da gerade passiert. ‚Ich habe nichts getan. Ich habe nicht gespielt.‘ Aber sie vergisst – oder ist sich nicht bewusst –, dass in der Kunst oder in einem Tanzstück, in einem Theaterstück, egal was – dass immer mehrere Aspekte eine Rolle spielen. Da ist die Musik, vielleicht andere Geräusche, das Licht, die Farbe ihres Kleides, ihr Haar – alles zusammen ist da. Und all das zusammen macht die Szene aus, gibt ihr Bedeutung. Das ist etwas, das viele Menschen vergessen. Besonders bei Hitchcock: Er war sich der Farben sehr bewusst. Auch in diesem Film sieht man es: Am Anfang trägt sie bunte Kleider, dann werden sie grauer, dunkler. Natürlich wurde ihr Schicksal immer trüber, grauer – sie sollte getötet werden. Das ist die ganze Geschichte. Wir als Publikum merken das vielleicht gar nicht, weil wir so in der Handlung sind. Manchmal fällt es einem nicht auf. Ach so, ja, das macht er mit dem Ton, das macht er mit dem Licht, das macht er mit den Farben, mit den Kostümen.‘ Denn jeder Aspekt ist wichtig für das Ganze. Und ich glaube, für Pina Bausch war das genauso. Sie musste sich mit ihren Bühnenbildnern wohlfühlen. Zuerst Rolf Borzik – er war ja auch ihr Partner. Zu Hause haben sie natürlich viel darüber gesprochen. Später hatte sie mit Peter Pabst auch eine sehr gute Beziehung, glaube ich. Denn wenn sie ihm bei der Arbeit nicht hätte vertrauen können, hätte sie sich nicht wohlgefühlt. Sie musste sich wohlfühlen.
Ricardo Viviani:
Aber die Tänzer müssen auch dieses Vertrauen in sie haben. Wie hat sie diese Atmosphäre des Vertrauens geschaffen?
Tjitske Broersma:
Ja, ich erinnere mich. Das war in dem Film von Wim Wenders, da war eines der kleinen Mädchen mit seinen langen, schönen Haaren. Eines Tages sagte Pina zu ihr: ‚Warum hast du Angst vor mir?‘ Und ich dachte: ‚Das ist ja komisch. Ich hatte nie Angst vor Pina Bausch. Ich war eine Freundin.‘ Wir waren wirklich enge Freundinnen. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, nicht nur bei der Arbeit, sondern auch danach – wir sind zusammen essen gegangen. Aber bei diesem Mädchen war der Altersunterschied zu Pina Bausch größer. Deshalb war es für mich lustig zu hören: ‚Ich habe Angst.‘ – Warum Angst? Sie ist so lieb. Sie ist die einzige Lehrerin oder Choreografin, die ich hatte, die nicht schreit. Die dich nicht zwingt. Nun ja, sie hat uns schon gezwungen – aber auf eine andere, sanfte Art. Indem sie einfach sagte: ‚Nochmal, bitte.‘ Besonders das Wort ‚Bitte‘: Es ist ein höfliches Wort. Das war angenehmer. Nicht der Choreograf, der ‚Nein, nein!‘ schreit und der Befehle erteilt! ‚Nie schimpfen!‘ Wir haben einfach zusammengearbeitet. Jemand aus Holland hat mich einmal gefragt: ‚Hat es dich nicht gestört, dass du so lange und so hart arbeiten musstest, immer wieder: nochmal, nochmal?‘ – ‚Nein‘, habe ich gesagt. So habe ich nie gedacht, wie du das jetzt sagst! Wir haben einfach mit ihr gearbeitet, und man wollte selbst auch immer besser und besser werden. Es war nie die Frage: ‚Oh Gott! Sie will es nochmal! So ein Mist!‘ Nein, so denkt man nicht. Das Schöne war: Man war gemeinsam konzentriert auf das Ziel: Wohin wollen wir? Das wollen wir erreichen. Also machen wir es nochmal. Ja, nochmal. Einfach arbeiten. Erfahrungen sammeln. Und genau das hat sie so liebenswert gemacht!
Ricardo Viviani:
Was die Bewegung angeht, hat Hans Pop viele Proben mit euch gemacht?
Tjitske Broersma:
Nein, es war immer Pina Bausch. Sie hat immer die Proben geleitet. Ein paar Mal war sie krank und Hans Pop hat geprobt. Sehr trocken. Eins, zwei, drei, vier. Weißt du, Pina hat nie gezählt!
Ricardo Viviani:
Sie hat nie gezählt? Auch in „Das Frühlingsopfer“ nicht?
Tjitske Broersma:
Nein. Naja, natürlich doch, wenn wir gelernt haben. Aber das ist das Schöne, dass nicht zu viel gezählt wurde. Es gibt einen Moment, den wir wirklich gezählt haben. Das war die „11“: (zeigt) „eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, tah tah tah, 11.“ Aber im ganzen Rest sind es alles Sätze. (singt) „Dee dee dee dee dee dee dee dee dee dee“. Es ist also nicht so, dass du weißt: eins, zwei, drei, vier (singt). Nein, du singst. Es gab nur einen Moment, weil es da ein Staccato gibt, natürlich mit der Musik. Aber es stimmt, diese Musik ist so kompliziert, und trotzdem war es nicht nötig, zu zählen, weil du es in Sätzen gemacht hast. Ja, das ist schön. Es muss unmöglich sein, Das Frühlingsopfer zu zählen! Auch was das Gefühl angeht: (zeigt) eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Nun, das ist unmöglich. Du musst es nicht zählen (lacht). Das war ein Talent von ihr: Sätze zu kreieren.
Kapitel 4.3
Rolf Borzik
Ricardo Viviani:
Ich bleibe bei Rolf Borzik. Was ist mit den Kostümen? Zu dieser Zeit wurde die Art von Kostümen, die er vorschlug, in anderen Tanzstücken kaum verwendet. War euch das bewusst?
Tjitske Broersma:
Ich kenne eine sehr schöne Geschichte über Kostüme von Nachnull. Weil sie keine Kostüme ausprobieren wollte: nackt. Kennst du die Geschichte?
Ricardo Viviani:
Erzählt mal!
Tjitske Broersma:
(lacht) Ich war noch nicht da, und das ist schade. Also, sie wollte das mit den Tänzerinnen ausprobieren, und sie sagte zu ihnen: „Nein, keine Sorge, wir werden in der Folkwangschule auf der Bühne stehen, und wir werden die Türen abschließen. Nur Hans Züllig wird zuschauen.“ Weil sie natürlich wollte, dass auch jemand anderes zuschaut. Und ich bin mir nicht sicher, ob es nicht auch noch eine andere Frau gab. Sie brauchten natürlich auch Licht, weil man es im Licht sehen muss. Es muss also noch ein paar andere Leute gegeben haben. Wirklich zugeschaut hat Pina, aber sie fand es „ZU ästhetisch“. Ist das nicht wunderbar? Sie hat doch auch nach Ästhetik gesucht hat, aber es war ZU ästhetisch: also mussten Kostüme her (lacht). Und dann hatten wir Tannhäuser Bacchanal: sehr dünne Kostüme, fleischfarben. Und Susanne Linke sagte: „Oh, nein, nein. Furchtbar!“ Und dann zeigte Pina es mit einem der Mädchen der Folkwangschule, einem sehr hübschen, dünnen Mädchen — einem wunderschönen Mädchen. Da sagte Susanne: „Ja, natürlich steht es ihr gut. Sie kann sogar einen Müllsack anziehen und trotzdem wird sie wunderschön sein.“ Aber Pina Bausch sagte natürlich, sie wolle es so, also wurde es so gemacht.
Ricardo Viviani:
Aber dann, in Fritz kommen all diese verrückten Kostüme.
Tjitske Broersma:
Ja. Die armen Jungs, die wie [siamesische] Zwillinge aneinandergebunden sind. Sie müssen sich ständig gemeinsam bewegen – das ist schwierig. Dann gibt es die Großmutter mit diesem Problem. Dann ich mit dem Penis (lacht). Bei Blaubart hatten wir das kleine Kleid, wie wir es nannten, und das große Kleid. Das kleine Kleid war aus einem dünnen Stoff, aber es war immer ein bisschen zu groß. Man sieht das auch in Café Müller bei Malou Airaudo. Sie trägt ein extrem großes, eine Art Unterkleid. Wir hatten immer ein etwas zu großes Kleid, damit es sich besser bewegte. Ich glaube, das war das Geheimnis. Dann, mit Jan Minařík und Marlis Alt, als er ihr am Ende alle Kleider übereinander anzog – schrecklich. Das muss sehr schwer für sie gewesen sein, weil man ein Gefühl von Ersticken bekommt. Man kann nicht mehr atmen. Es kam immer mehr und mehr und mehr dazu. Und jedes Mal war ich überrascht, dass er ihr noch ein weiteres Kleid anziehen konnte. Sie war schon wie ein Michelin-Männchen, und dann kam noch eins. Natürlich sind die Kleider dabei oft gerissen, und jedes Mal mussten die Kostümbildner nach „Blaubart“ viel reparieren. Manchmal war es so schwierig mit Pina Bausch – manchmal hat sie es einem wirklich schwer gemacht, aber ich glaube nicht, dass das Absicht war. Ich meine, die unterschiedlichen Bodenbeläge waren schwierig. Die Kostüme waren schwierig, aber so musste es eben sein.
Kapitel 4.4
Gigi-Georghe Caciuléanu
Ricardo Viviani:
Vielleicht können wir jetzt über „Café Müller*“ reden. Auch über Gigi-Georghe Caciuléanu und Gerhard Bohner.
Tjitske Broersma:
Ja. An ihn [Gerhard Bohner] kann ich mich nicht so sehr erinnern. Ich weiß nur, dass es mir nicht so gut gefallen hat. Gigi – Gheorghe Caciuléanu – den mochte ich sehr – ein bisschen verrückt, dieser Typ. Er arbeitet sehr schnell, sehr schnell. Wenn du Dinge tust und sie lernst, dann bekommst du jede Menge Material. Und dann, nach ein paar Tagen: „Okay. Von da bis da, streichen. Raus!“ Oder es hieß: ‚Von da bis da setzt du das dorthin (zeigt), und der Teil kommt dorthin.‘ Okay. Nächstes Mal. „Nein. Falsch. Wir machen das so.“ In dieser Zeit habe ich wirklich gelernt, schnell zu lernen und mir die Reihenfolge zu merken. Schrecklich, schrecklich, schrecklich. Aber er war so ein netter, charmanter Typ, dass man es trotzdem akzeptiert hast. Das tat ich. Es hat mir nichts ausgemacht, ich habe mich nur lustig gemacht. „Oh Gott! Du schon wieder!“ Was man dann eben so sagt. – Sehr kreativ. Er war selbst ein sehr guter Tänzer. Wir wollten zehn Pirouetten von ihm sehen. „Kein Problem“ (zeigt). Dann, eines Tages, hat er etwas gemacht wie beim Eiskunstlaufen: [Drehung] (zeigt), die Leute drehen sich runter und wieder hoch (lacht). Ich habe nicht verstanden, wie er das gemacht hat. Es ist verrückt, aber er konnte das. Er hatte eine phänomenale Technik.
Tjitske Broersma:
Zuerst war er in Paris, glaube ich. Er hat das Land [Rumänien] als Flüchtling verlassen und ist nach Paris gegangen, und vielleicht hat er von Pina Bausch gehört. Vielleicht hat er sie dort getroffen, ich weiß es nicht.
Ricardo Viviani:
Ich meine, wann hast du ihn getroffen?
Tjitske Broersma:
Das war in der Folkwangschule. Er war wirklich schockiert, was es alles in den Geschäften zu kaufen gab. Die Menge an Dingen in den Geschäften. Er fand es obszön. Er mochte es überhaupt nicht. Er hatte immer Mandarinen im Studio und wir konnten die nehmen. Es war nett, mit ihm zu arbeiten. Sehr nett.
Kapitel 4.5
Tanztechnik
Ricardo Viviani:
Wir hatten kürzlich diese Ausstellung im Schauspielhaus Wuppertal, wo wir viel Material aus Café Müller gezeigt haben, und wir hatten die Videos. Hat das einige Erinnerungsfunken bei dir geweckt?
Tjitske Broersma:
Ja. Ich dachte, es ist nicht schlecht, was ich da mache. Dachte ich (lacht). Es gab mir ein warmes Gefühl. Ja, und auch die anderen, wie Dana Sapiro mit ihren Pirouetten in ihrer attitude derrière. Ich dachte, wow! Das ist sie! Das ist sehr gut. Oh, ja.
Ricardo Viviani:
Apropos Attitude Derrière, Pirouetten, zehn Pirouetten. Gab es in der Kompanie Leute mit unterschiedlichen technischen Fähigkeiten? Gab es irgendeine Art von Hierarchie oder Besonderheiten: diese Leute sind gut hierfür, und diese Leute sind gut dafür?
Tjitske Broersma:
Ja. Pina Bausch war sehr spezifisch darüber, und es gab Unterschiede in der Technik. Ich war eher ein moderner Tänzer als ein klassischer. Meine moderne Technik war stärker ausgeprägt als bei manchen anderen. Mir war gar nicht so bewusst, dass die Leute das so wahrgenommen haben. Ich wusste das nicht. Denn eines Tages sagte Mari Di Lena zu mir: ‚Oh, du bist so eine gute moderne Tänzerin.‘ Ja, die Leute sagten, meine Stärke sei die moderne Technik. Und es gab Tänzer, die noch nicht so lange oder nicht sehr lange getanzt hatten. Oder wie Malou Airaudo, die schon ein Star war, als sie dazukam. Ich kann mir Malou überhaupt nicht im Corps de Ballet vorstellen. Und auch Dominique Mercy nicht.
Ricardo Viviani:
Hat es dir deine Ausbildung im modernen Tanz leichter gemacht, in die Ideen der Improvisation und in die Kreation hineinzufinden?
Tjitske Broersma:
Vielleicht, könnte sehr gut sein. Denn schon in der Akademie hatten wir Improvisationskurse. Du bist also offen dafür, hast keine Angst davor. Du hast schon einige Erfahrung. Und ich mag es auch, ich improvisiere und choreografiere gern. Ich denke immer auch an das Gesamte. Wenn ich etwas mache, dann ist mir sehr bewusst: „Okay, es gibt einen Anfang, es gibt eine Entwicklung und es gibt ein Ende.“ Manche Leute dagegen lassen sich einfach treiben. Gleichzeitig fange ich schon an zu choreografieren, da ist etwas in mir. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Visualisieren. Das musst du auch wissen.
Ricardo Viviani:
Ja. Kannst du uns das beschreiben?
Tjitske Broersma:
Visualisieren. Ich liebe das und viele Tänzer lieben das, weil sie nichts tun müssen, als einfach da zu liegen und sich vorzustellen, was man tust. Wo fängst du an, wo ist die Pause. Aber es ist wichtig, dass du beim Rhythmus bleibst. Die Musikalität ist auch sehr wichtig. Es ist also nicht nur so, dass du denkst: (zeigt) „Oh ja. Hä? Oh ja, dann das.“ Nein, du musst es so machen: (singt) „Hä? Ja. Ja.“ Das passt zur Musik. So machen das auch Sportler. Ich habe vor kurzem von einer Läuferin gehört, dass sie immer zuerst visualisiert. Wie sie den Anfang macht, wie es weitergeht und wie sie endet. Und ich dachte: „Das wissen wir Tänzer auch!“ Das hilft. Das habe ich auch anderen Leuten, mit denen ich gearbeitet habe, beigebracht. Ich habe gesagt: „Du musst dich nicht immer bewegen. Zuhause liegst du im Bett und versuchst dir vorzustellen, wie es aussieht.“ Und damit haben sie wirklich gute Erfahrungen gemacht. Sie sagten: „Nun, es hilft!“ „Natürlich hilft es.“ Das ist wichtig, das macht dich stärker. Genau. Wie macht man das? Stell es dir einfach vor.
Ricardo Viviani:
Markieren während der Proben – war das etwas, das gemacht wurde? Denn in manchen Kompanien gehen die Tänzer hin und markieren gemeinsam. Ist das hilfreich? Inwiefern?
Tjitske Broersma:
Ja, aber das ist auch eine Kunst. Wirklich! Wenn Pina uns beim Markieren sah, war sie damit oft nicht zufrieden. ‚Das ist kein Markieren. Das ist nichts als eine kleine Bewegung.‘ Denn auch da ist die Musikalität sehr wichtig, und man muss die komplette Bewegung machen, nur eben mit weniger Kraft. Sie sagte: ‚Ja, es ist schwer, gut zu markieren.‘ Und es gibt Tänzer, die nicht wissen, wie man markiert – Hiltrud Blanck, sie konnte das nicht. Sie hat die Bewegung immer ganz ausgeführt. Das sieht man auch bei Schauspielern, die spielen auch immer voll aus, und die Regisseure lieben das natürlich. Aber es ist anstrengend. Gutes Markieren – das haben wir auch viel gemacht, und manchmal sagte sie: ‚Ja. Jetzt weißt du, dass du markieren kannst.‘ Aber meistens war es doch ganz ausgeführt. Sie wollte es – und sie hat recht – sonst kann sie es nicht sehen. Wie sieht es aus, wenn jemand nur (zeigt) markiert? Denn man muss es vollständig sehen: die richtige Energie, die richtigen Bewegungen, den richtigen Umgang mit den Menschen, oder mit dem Raum, oder mit dem Wasser. Es gibt so viele Aspekte im Tanz – und wie markiert man das? Visualisieren ist besser, finde ich. Alles oder nichts. Das ist das Beste
Ricardo Viviani:
Alles oder nichts.
Ricardo Viviani:
Gibt es etwas, das ich vergessen habe? (lacht) Gibt es etwas, worüber du in diesen Tagen nachgedacht hast, als wir diesen Interviewtag vereinbart haben? Wovon du dachtest „es ist wichtig, darüber zu sprechen“?
Kapitel 4.6
Raum und Bewegung
Tjitske Broersma:
Nun, für mich war es wichtig, über all diese Aspekte von Raum und Bewegung zu sprechen. Das war mir wichtig. Das ist eigentlich das, was ihre Handschrift ausmacht. Das haben wir ja besprochen. Kleinigkeiten haben wir gemacht, es gab auch einen lustigen Moment: Ich war nicht in *Ich bring dich um die Ecke... * und musste das später lernen, anstelle von Margaret Huggenberger. Sie ist eine kleine Frau und ich bin viel größer. Ich trug einen Regenmantel. Pina schaute zu und sagte: „Nein, nein, nein, nein. Könntest du dich etwas kleiner machen?“ (lacht) „Nein, Pina, komm schon, das geht nicht... das funktioniert nicht.“ Aber ich habe es wirklich versucht. Es ist schon okay, aber das ist auch typisch Pina Bausch. Es war ihr wichtig, dass die Leute, die man ersetzt, eine Ähnlichkeit haben. Sie konnte nicht akzeptieren, dass die Menschen unterschiedlich sind. Du weißt schon, die Form ist dann nicht so wichtig.
Ricardo Viviani:
Du hast bestimmt erlebt, dass viele Leute Rollen übernommen haben, und das ist immer ein Thema: Du brauchst eine kleine Frau, du brauchst dies und das. Wie wichtig ist das, was manchmal Typecasting genannt wird?
Tjitske Broersma:
Ja, sie hat es so gemacht. Es war klar, wer was macht. Es war ziemlich klar. Am Anfang machten wir alle das Gleiche, und dann überlegte sie, wer für dieses oder jenes gut ist. Oder es war von Anfang an klar, dass diese Person das machen muss, jemand anderer muss jenes tun. Ich würde es nicht Typecasting nennen, das ist zu eindimensional.
5. Tanzerbe
Kapitel 5.1
Als Gast
Ricardo Viviani:
Fähigkeiten. Genau. Als du die Kompanie verlassen hast, hast du noch ein paar Spielzeiten als Gast mitgespielt. In welchen Stücken?
Tjitske Broersma:
Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ‚Herzog Blaubarts Burg‘, und ich wurde auch für den Film von Das Frühlingsopfer angefragt, aber ich hatte selbst Auftritte in Holland. Ich wurde auch gebeten, mit auf Tournee nach Australien zu gehen, aber ich hatte Auftritte. Dann, typisch Pina Bausch: „Kannst du die nicht absagen?“ (lacht) Ich sagte: „Pina, wir sind eine professionelle Kompanie. Das kann ich nicht einfach absagen.“ Wir waren eine kleine Kompanie, wir waren fünf Leute und wir hatten Geld. Ich hatte dort ein besseres Gehalt als hier in Deutschland. Aber sie wollte es, und ja, das nenne ich eine schwierige Sache bei ihr: dass sie wichtiger ist als andere. Nein, das ist meine Arbeit, jetzt in diesem Moment. Aber am Anfang bat sie oft Leute, Gast zu sein — auch Dominique Mercy, weil sie dieselbe Person an dieser Position, in dieser Rolle haben wollte. Ich denke, es ist jetzt anders. Später wurde es wirklich anders, ich glaube, sie hat akzeptiert, dass Menschen unterschiedlich sind und es nicht notwendig ist, genau dieselben zu haben. Es sei denn, sie hat nach etwas ganz Besonderem gefragt. Aber das war der Grund, warum wir immer gebeten wurden, Gast zu sein — und das hat mir natürlich gefallen.
Ricardo Viviani:
Du warst in den nächsten Jahren als Gast dort, es gab Kontakthof und andere Stücke, aber bist du danach in Kontakt geblieben?
Tjitske Broersma:
Ja, ich bin immer zu Premieren gekommen, oder auch später, wenn ich Zeit hatte. Mir hat es gefallen, ich wollte in Kontakt bleiben und hatte immer ein kleines Gespräch mit ihr. Was ich bedaure: Nachdem wir Essen-Werden verlassen hatten und dann in Wuppertal waren und es immer größer wurde und immer mehr Leute nach Auftritten über sie herfielen, wurde dieser Kontakt zwischen ihr und mir immer weniger. Das habe ich wirklich bedauert, denn wir hatten ein sehr nettes Verhältnis, aber so läuft das Leben dann eben. Man hat keine Zeit.
Kapitel 5.2
Rückblick
Tjitske Broersma:
Dieter Kloos hat unser Training geleitet. Da gab es auch ein Problem. Wir sollten am Ende an der Stange Spitzenschuhe anziehen. Abends haben wir dann Das Frühlingsopfer getanzt, am nächsten Morgen Spitzenschuhe, am Abend Das Frühlingsopfer. Das war einfach unmöglich. Das Frühlingsopfer bedeutet runter, runter, runter. Spitzenschuhe nach oben, hoch, hoch. Also habe ich mit Pina Bausch gesprochen. Die Leute trauten sich nicht, mit ihr zu sprechen. Das ist tatsächlich wahr. Ich hatte keine Angst vor ihr, ich sagte: „Das ist nicht gut für den Körper. Und es ist unmöglich. Ich meine, wir kämpfen mit unserem Körper. Das Frühlingsopfer zu tanzen ist bereits ein Kampf. Sie stimmte zu, und es gab keine Spitzenschuhe mehr.
Ricardo Viviani:
Also hat sie zugehört. Wenn man mit ihr sprach, hörte sie auch zu.
Tjitske Broersma:
Das hat sie wirklich verstanden. Ja. Sie dachte auch, dass wir vielleicht etwas mit Spitzenschuhen machen würden. Als sie mich bat, nach Wuppertal in die Kompanie zu kommen, sagte sie: „Du solltest damit rechnen, dass du auch in den Operetten tanzen wirst.“ Und ich sagte: „Ich will nicht. Ich komme wegen dir her. Nicht für die Oper.“ Aber das mussten wir natürlich machen.
Kapitel 5.3
Was ist Tanztheater
Ricardo Viviani:
Was ist Tanztheater?
Tjitske Broersma:
Was ist Tanztheater? Es war ein Ort für mich, an dem ich mich zu Hause fühlte und es war mein Leben. Es war kein Job. Ich spreche manchmal über Arbeit, aber es war kein Job. Es war wie zu Hause zu sein. Es war eine Leidenschaft. Ich habe viel über Bewegung gelernt und ich habe ganz persönlich viel von ihr gelernt. Und das habe ich auch gelernt: Integrität – dass man nicht denken kann: „Oh, ich muss das fürs Publikum machen!“ Von meinen älteren Kollegen sagte einer: „Ich möchte ein Choreograf werden, der sich in einem sehr modernen Stil bewegt.“ Und ich sagte: „Das kann man nicht sagen. Du kannst nur machen, was du machen willst.“ Und genau das hat Pina Bausch getan. Manchmal wurde ihr vorgeworfen, nicht an das Publikum zu denken. Und sie sagte: „Wer ist dann das Publikum? Was ich sehe, sind Tausende von Menschen. Sie haben nicht alle den gleichen Geschmack. Manche Leute werden es mögen, andere nicht. Diejenigen, die es nicht mögen, bleiben weg. Ein neueres Publikum wird kommen.“ Und genau das ist passiert. Ja. Also, für mich war das eine sehr wichtige Zeit in meinem Leben. Yeah.
Ricardo Viviani:
Wunderbar. Wir sind am Ende dieses Oral-History Interviews angelangt. Ich danke vielmals, dass du all diese Erinnerungen mit uns geteilt hast.
Rechtliches
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