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Interviewte Person
Interviewee
Jean Laurent Sasportes

Recherche, Vorbereitung und Interview
Research, Preparation and Interview
Ricardo Viviani

Kamera
Camera
Sala Seddiki

Transkription
Transcript
Ricardo Viviani

Lektorat
Proofreading
Gertraud Johne

Übersetzung
Translation
Steph Morris

© Pina Bausch Foundation

Inhaltsübersicht
    1. 1.1
      01:26
    2. 1.2
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  3. 01:24:24
    1. 9.1
      01:24:24

Interview mit Jean Laurent Sasportes, 5.10.2018

„Meine Geschichte könnte junge Leute inspirieren, die tanzen wollen.“ Diese erste Aussage von Jean Laurent Sasportes bestimmt den Grundton seines biografischen Interviews. Darin spricht Jean Laurent Sasportes über sein vorheriges Studium und wie er erst spät zum Tanzen fand. Er gibt einen Überblick über seine Tanzausbildung in privaten Tanzschulen. Er beschreibt die Begegnung mit Pina Bausch und den Prozess, Mitglied des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch zu werden. Er analysiert und beschreibt detailliert die unterschiedlichen Nuancen der Komposition der Stücke. Mit Fokus auf Café Müller gibt er uns einen Einblick in seine Herangehensweise an die Rolle von Rolf Borzik. Er beschreibt auch das künstlerische Umfeld Wuppertals in den 1980er Jahren mit Blick auf die Free Jazz Szene.

Das Interview wurde auf Deutsch geführt und ist in englischer Übersetzung verfügbar.

Interviewte PersonJean Laurent Sasportes
Interviewer:inRicardo Viviani
KameraSala Seddiki

Permalink:
https://archives.pinabausch.org/id/20181005_83_0001


Inhaltsübersicht

1

Kapitel 1.1

Tanzwege
1:26

Ricardo Viviani:

Wir würden gerne [etwas über] deine Tanzwege bis zu Pina hören.

Jean Laurent Sasportes:

Ich glaube, meine Geschichte könnte vielleicht ein paar junge Leute, die tanzen wollen, inspirieren. Ich war in der Uni, ich habe Mathematik, Physik und Chemie zwei Jahre lang studiert. Danach dachte ich, irgendwie fand ich die Mathematik und Physik sehr interessant, aber vielleicht war mein Hintergrundwissen nicht gut genug oder ich brauchte vielleicht zu viele Bilder, um das wirklich zu verstehen. Das war die Zeit der Umweltschutzbewegung, der erste Anfang, und da dachte ich, ich wollte gerne Ozeanograph, Meeresforscher werden. Ich fand Jacques Cousteau ganz toll und diese ganze Arbeit. Dann habe ich gedacht, gut, um Meeresforscher zu werden und Ökologe, den Weg konnte ich am besten / erst als Naturwissenschaft, dann hat mich [das] zur Pharmazie-Universität geführt, nicht um Pharmazeut zu werden, sondern weil da die Ausbildung in Biochemie und allen Feldern tiefer ist. Danach braucht man nur ein Jahr Spezialisierung und ich wäre das Gleiche. Aber nach 2 Jahren Pharmazie-Uni dachte ich, ich konnte nicht weitermachen. So wie immer - alles, was man studiert ist interessant, aber die Umgebung für mich war ein bisschen - nicht so, was ich brauchte. Dann habe ich mich entschieden, mich im Polytechnikum in Kanada [an]zumelden. Ich hatte alle Papiere gemacht, alles war bereit, damit ich im Polytechnikum angenommen würde, weil ich das Glück hatte, dass ich sehr gute Briefe von meinen früheren Mathematik- und Physiklehrern hatte. Nicht weil ich so gut war, sondern weil die so nett waren.
Einen Monat bevor ich die Reise organisierte, traf ich einen Freund von mir in Montpelier, der eigentlich in einer kleinen Amateur-Tanzkompanie war. Und er war in diesem Café in Montpellier mit der ganzen Kompanie. / Es war Anne-Marie Porras, sie ist eine Modern-Jazz-Tanzlehrerin, die immer noch ein großes Zentrum in Montpelier hat: Epsedanse. Sie war da mit ihren Tänzern, ich wurde vorgestellt. Sie sagen mir, du musst kommen, gucken, was wir da machen. Ich sage: „Ja, wann?!“ „Morgen haben wir Probe.“ Den Tag danach ich war ich da, um zu gucken. Zum ersten Mal, weil ich eigentlich mit Tanz [nichts zu tun hatte], außer, dass ich sehr gern getanzt habe und mich bewegt. Dann guckte ich diesen ersten Tag Probe und guckte den nächsten Tag Probe und so weit[er] die ganze Woche. Ich war Student, so konnte ich [mir] wirklich Zeit nehmen und machen, was ich wollte. Nach einer Woche, die ich jeden Tag da war, sagten mir die Tänzer: Guck mal, stell dich da mal vor[ne hin] und mach so wie wir. Es waren eigentlich sehr einfache Bewegungen. Ich kann mich sogar erinnern. (Zeigt eine Bewegung) Dann habe ich angefangen und das hat riesigen Spaß gemacht, und dann haben die mir gesagt: wir fahren auf Tournee, es war eine kleine Tournee - es war keine professionelle Kompanie - in dem Sommer. Und sie haben mir gesagt: „Wir haben eine Tournee, wir haben ein paar Städte, wo wir Vorstellungen haben, kommst du mit? Diese Choreografie, die du jetzt gelernt hast, kannst du mitmachen. Du kannst den Unterricht vorher mit uns weitermachen und kannst dich um die Technik, das Licht kümmern, um uns zu helfen.“ Dann war ich mit und da habe ich angefangen zu überlegen, was soll ich denn weitermachen? Es gefällt mir so, so sehr, was soll ich machen? Das war wirklich ein harter Sommer in dem Sinn, dass ich eine Entscheidung [treffen] musste, weil ich im September entscheiden musste, ob ich doch nach Montreal ins Polytechnikum [gehe], worüber mein Vater ganz glücklich war, oder irgendwie denken, ich will... ich wusste nicht mal was. Ich will tanzen. Ich habe ein paar Nächte, [in denen] ich nicht schlafen konnte, (()) mit ein paar Leuten darüber gesprochen. Und ich habe mich tatsächlich entschieden zu versuchen, Tänzer zu werden. Dann habe ich das meinem Vater gesagt. Mein Vater, ich muss sagen, ich bewundere ihn, er war wie ein Vater, so wie ich jetzt, man will das Beste für sein Kind. Das Beste bedeutet trotzdem kein Geldproblem, Sicherheit, Respekt in der Gesellschaft zu bekommen, was ich jetzt, [wo] ich einen Sohn habe, sehr gut verstehen kann. Ich war damals 22, 23 und ich war ziemlich weit mit dem Studieren. Ich brauchte noch einige Jahre, um fertig zu sein, aber trotzdem. Und da zu sagen, ich höre auf und ich fange an zu tanzen, ich meine ... / [Zuerst] war er sehr schockiert, danach hat meine Mutter viel dran gearbeitet, sie war toll. Sie dachte natürlich, ich will das Beste für meinen Sohn, aber das Beste ist, was meinem Sohn gefällt. Sie hat sehr geholfen. Dann hat mein Vater was ganz Tolles gesagt: „Guck mal, ich werde dir weiter ein Jahr lang Geld geben, so als ob du Student wärst. Nach einem Jahr kriegst du die Hälfte davon, nach einem Jahr die Hälfte von der Hälfte, und danach musst du [es] selbst schaffen mit deinem Tanz.“ Klasse, nicht? Super. Dazu wusste ich, dass wenn ich Probleme habe, würde er mich nicht im Stich lassen. So habe ich angefangen.

8:37

Jean Laurent Sasportes:

Dann habe ich mit dieser Kompanie angefangen Unterricht zu nehmen, so viel wie möglich natürlich. Und wir haben einen großen kontemporären Tänzer kennengelernt, den Jörg Lanner. Jörg Lanner war ein großer Tänzer von der Maurice Bejárt Kompanie, von ganz [vom] Anfang. Der war damals noch mit Lise Pinet verheiratet, und dieses Paar war das berühmte Romeo-und-Julia-Paar von der Choreografie von Maurice. Sie waren eben gerade nach Montpelier umgezogen, die waren nicht mehr in der Kompanie, und haben eine Tanzschule aufgemacht. Natürlich sind wir sofort dahin gegangen, und da habe ich meinen ersten Ballettunterricht und mit modernem Tanz angefangen. Ich bin bei dieser Kompanie 2 Jahre lang geblieben, habe auch angefangen Stücke zu schreiben: Synopsen von Stücken, bis ich mich entschieden habe, es wirklich in der professionellen Welt zu versuchen und nach Paris umzuziehen und da auf einem anderen Niveau mich zu konfrontieren. Ich habe sehr früh angefangen Tanzunterricht zu geben, für Anfänger. Das war eine gute Gelegenheit, um zu wiederholen, was ich grade gelernt hatte. Konnte ein bisschen Geld damit verdienen. Und dann in Frankreich: warum Paris? Wir hatten in Montpelier Kompanien eingeladen, ein paar Sachen organisiert, unter anderem [die] Peter Goss Kompanie, mit der wir uns sehr gut befreundet haben. Peter Goss war mein Ziel, nicht als Tänzer der Kompanie, aber er war ein super Lehrer, ich meine, er ist ein super Lehrer. Ich wollte unbedingt bei ihm Unterricht nehmen. Und so habe ich im Centre de la Danse in Bertin Poirée in Paris angefangen. Da muss man seinen Unterricht bezahlen, das ist nicht wie im Conservatoire oder der Folkwang Hochschule, wo man angenommen wird. Das ist so wie in New York, man muss den Unterricht bezahlen, irgendwann macht man eine Audition und wenn man Glück hat, ist man auf dem Markt. Dann habe ich mit Peter allen möglichen Unterricht genommen, es ging bis 3, bis 4 [Arten von] Unterricht - das und Ballett. Ich habe angefangen in der Kantine von der Schule zu arbeiten, um meinen Unterricht nicht bezahlen zu müssen. Später [im] Sommer habe ich angefangen die Tanzlehrer zu ersetzen, weil die Pause machten.

2

11:47

Jean Laurent Sasportes:

Petit à petit konnte ich mein Niveau verbessern und irgendwann habe ich [ein] Vortanzen gemacht. Dann bin ich mit einem Vortanzen in München gelandet. Da war eine Choreografin, die hieß Birgitta Trommler, und da bin ich 6 Monate geblieben, inzwischen hat jemand mir gesagt, dass Pina Männer für ihre Kompanie suchte. Ich wusste nicht, wer Pina war, aber die Person, die mich gut kannte, hat gesagt: „Es würde super passen mit dir.“ Dann irgendwann reise ich direkt nach Wuppertal, ohne [Weiteres] zu wissen. Ich wohnte bei dieser Person, die mir diese Information gegeben hat, in Essen und dann komme ich nach Wuppertal und ich gehe ins Opernhaus. Ich wusste nicht mal, wie Pina aussah. Ich frage den Pförtner: „Bitte, wo kann ich Pina Bausch treffen?“ „Geh mal in die Kantine, sie ist bestimmt da.“ Ich gehe dahin, ich frage am Tresen: „Wer ist Pina?“ Die Leute gucken mich komisch an und sagen: „Da an diesem Tisch.“ Da waren vier Frauen: Pina, Marion Cito, Vivienne Newport und Jo Ann Endicott. Ich kannte keine von den vier. Ich hatte damals die Haare so (Geste Hände zur Schulter) und ich hatte Stiefel bis über die Knie. Zuerst geh ich zu Marion Cito und sage: „Sind Sie Pina Bausch?“ Die drei anderen lachen sich tot, alle vier, besonders laut. Pina guckt mich an und sagt: „Nein, ich bin Pina.“ Sie guckt mich nur an (lacht). Ich sage: „Ja, ich habe gehört, dass Sie Männer suchen.“ Fangen die wieder an zu lachen. „Wir suchen Männer, ja ja.“ Ich erklärte, sie war sehr amüsiert und sagt mir: „Ich habe heute Abend Generalprobe, komm, guck. Den Tag danach habe ich Unterricht mit der Kompanie. Danach kann ich vielleicht gucken, was du kannst.“

Jean Laurent Sasportes:

Das war die Generalprobe von dem Stück, das gerade gemacht wurde, Arien. Die habe ich geguckt. Ich hatte keine Ahnung, was die Arbeit von Pina war. Und als ich das gesehen habe – ich habe das auch irgendwo geschrieben – da habe ich gesehen, dass Pina schrie, die Sachen, die ich selbst schreien wollte. Das war genau, was ich eigentlich / was diese Welt war [für mich]. Den Tag danach habe ich Training mit der Kompanie gemacht, die waren alle, Dominique, Malou, solche Leute mit so einem Niveau, und ich komme mit meinen langen Haaren, ich hatte vielleicht 4 Jahre Tanz [gehabt]. Alle haben sich zurückgehalten vom Lachen. Ich war sowieso wie auf einer Wolke, ich merkte nichts. Dann habe ich den Unterricht gemacht und dann hat Pina mich ein paar Sachen gefragt, ein kurzes Vortanzen. Danach hat sie mir gesagt: „Ich fahre mit der Kompanie jetzt nach Paris“ – sie hatten gerade ihre erste Tournee im Theatre de la Ville, das war damals Blaubart oder so – „und dort will ich ein Vortanzen machen. Wenn ich niemanden gefunden habe – meld dich in 3 Wochen. Dann komme ich wieder und mal gucken.“ Ich bin nach München zurück und drei Wochen später melde ich mich. Pina sagt mir: „Ja, ich habe niemanden gefunden und ich würde gern dich wiedersehen und gucken, was du kannst.“ Dann habe ich Pina gesagt, „ich weiß nicht, wo ich wohnen könnte, ich kenne niemanden in Wuppertal.“ Dann sagt sie zu mir: „Ja, dann kommst du zu uns.“ (lacht)

Dann kam ich, Pina stellt mich Rolf Borzik vor, die beiden wohnten im Fingscheid, ich kriegte das Gastzimmer. Ich weiß nicht, warum, ich war so aufgeregt, dass ich Zahnschmerz hatte, furchtbar. Dann konnte ich nichts machen, bin 2 Tage im Zimmer geblieben und Pina und Rolf haben mir Tee mitgebracht. (lacht) Als ich wieder raus konnte war genau Ende der Spielzeit, dass heißt Pina hatte Zeit, was sehr, sehr selten ist, und sie sagte mir: „Wir gehen zum Opernhaus, mach dich warm, ich habe ein paar Bürosachen zu erledigen. Danach gucken wir [wegen] des Vortanzens.“ Ich habe mich warm gemacht, dann hat sie mich Sachen gefragt. Später habe ich festgestellt, dass, was sie mich fragte, Sachen waren, die aus dem Repertoire kommen, alles Mögliche. Nach drei Tagen – es war schon fast eine Woche, die ich da war – war ich natürlich mit den Nerven ziemlich fertig, obwohl wir viel Spaß miteinander gehabt haben. Abends sind wir ins Restaurant gegangen und war alles ganz entspannt. Danach gehen wir – nach drei Tagen – abends nach Köln, da war das große Tanzfestival. Pina war eingeladen. Da sitze ich neben Pina und ich treffe Alvin McDuffie, einen Modern-Jazz-Tanzlehrer, den ich kannte von früher. Pina kannte ihn natürlich. Alvin dreht sich zu mir, grüßt Pina und guckt mich an und sagt: „Oh Jean, was machst du hier?“ Dann erzähle ich: „Ich bin gekommen, um ein Vortanzen mit Pina zu machen.“ Pina war neben mir, ich habe total naiv erzählt. „Aber weißt du, gib mir deine Adresse in New York, ich bin nicht sicher, dass es klappt.“ (lacht) Total naiv. Er gibt mir seine Adresse und wir fahren zurück nach Hause. Dann sage ich, „weißt du Pina, wir haben viel Spaß mit Rolf und dir, ich fühl [mich bei] euch [wie bei] Freunden, das ist wunderbar. Wenn du mich wirklich nicht engagieren willst, dann sag es mir, das macht nichts, ich würde es verstehen, das sind zwei verschiedene Sachen.“ Sie sagte nichts. An dem Abend haben wir zwei junge Tänzer getroffen in Köln, die haben Pina gefragt, ob sie vortanzen könnten. Pina hatte gesagt: „Ja, kommt an dem folgenden Tag.“ Das heißt, an dem folgenden Tag war nicht nur ich zum Vortanzen, sondern die zwei Jungen dazu. Und Pina sagt, „Jean, du kennst die Bewegungen von Sacre, wir haben das schon oft genug gemacht, dann bitte bring das bei.“ Ehrlich gesagt, ich dachte, ok, jetzt bin ich raus. Ich zeige nur die Bewegungen, sie will die zwei [an]gucken und ich denke überhaupt nicht mehr an Vortanzen. Als wir fertig sind, dann treffen wir uns mit den Jungs in der Kantine. Die beiden kommen und Pina sagt: „Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass es klappt.“ Die gehen weg, waren natürlich enttäuscht. Sie guckt mich an und sagt: „Siehst du, ich kann auch nein sagen.“ (lacht) Dann gehen wir zurück nach Hause, sie nimmt eine Zigarette, guckt mich an und sagt: „Ja, ich glaube, wir werden es versuchen.“ (lacht)

Den Tag danach bin ich zurück nach München. Auf dem Bahnhof fühlte ich mich – kennst du den Film Next Stop Greenwich Village? – da ist ein Schauspieler, der endlich eine Rolle bekommt. Und dann ist er auf dem Gleis von dem Bahnhof und fängt an allein zu tanzen und der Polizist, ein Bobby, guckte ihn an – es war genau so, ich war so glücklich. Und da hat die ganze Geschichte angefangen.

3

21:52

Jean Laurent Sasportes:

Das erste Stück, mit dem ich mich beschäftigen musste, war Café Müller. Weil wir, ich weiß nicht mehr genau wann, aber wir sollten das in Nancy spielen und Rolf konnte das nicht mehr spielen. Das musste ich lernen. Das war, ich glaube, meine erste Vorstellung.

22:17

Ricardo Viviani:

Kannst du vielleicht erzählen, wie du die Rolle gelernt hast, ob du dich daran erinnerst. Damals wurde Café Müller nur 5 mal gespielt. Hast du mit Video oder mit den anderen Leuten, mit Malou und Dominique [gearbeitet]? Waren die Wege schon festgelegt oder haben sich stabilisiert, wie war das?

Jean Laurent Sasportes:

Das Lernen war damals mit Video, sehr schlechte Qualität, Schwarz-Weiß-Video, aber war schon zu sehen. Und natürlich Malou, Dominique, Pina, Jan haben wirklich mit mir gearbeitet, besonders Malou und Dominique. Die Wege, die Malou und Dominique genommen haben in der Choreografie, waren ziemlich präzis, aber nicht so präzis, dass man alles kontrollieren könnte, überhaupt nicht. Besonders damals, weil es viele, viele Stühle gab, mehr als danach. Malou und Dominique wollten gerne, dass es so natürlich wie möglich bleibt, mit Recht. Die sind hochprofessionell, wenn die jemandem helfen, wollen sie diese Person wirklich auf ihr Niveau bringen. Ich kann mich erinnern, dass meine erste Vorstellung in Nancy – da haben wir in einem alten Café oder ich weiß nicht …

24:31

Ricardo Viviani:

Es war in einer alten Garage [Autohaus] während des Festivals, etwas nördlich [vom Zentrum von Nancy], fast Stadtgrenze.

Jean Laurent Sasportes:

Genau, und das Publikum stand auf der Straße, durch die Schaufenster konnte das sehen.

24:46

Ricardo Viviani:

Ich weiß von Dokumenten, von Fotos, diese Garage hatte Fenster an allen Seiten, teilweise hat das Publikum gesessen und durch die Fenster reingeschaut. Das kann man auf den Bildern sehen. Aber du musst mir erzählen: Wie hat sich das angefühlt, in diesen Raum zu kommen.

Jean Laurent Sasportes:

Das ist, [woran] ich mich erinnern kann, und das Publikum war durch die Glasscheibe getrennt und es gab Millionen Stühle (lacht). Danach habe ich festgestellt, es gab 120 Stühle und unheimlich viele Tische. Und wenn man keine Erfahrung hat mit diesem Stück in dieser Rolle, man glaubt wirklich ganz ernst, dass man überall sein muss. Man muss Platz machen in alle Richtungen, was natürlich nicht machbar ist. Deshalb kriegt man am Anfang [zuerst] Panik und man bewegt sich hundert Mal mehr, als man normalerweise sollte. Es geht nicht [dar]um, den Stühle bewegenden Jean zu sehen, es geht um Malou, Dominique, Pina, ihren Tanz, ihr Gefühl. Ich muss nur aufpassen, dass sie sich nicht verletzen, und am besten unsichtbar zu sein. Natürlich habe ich das Gegenteil gemacht, weil ich glaube, [das] ist normal für jeden. Es war ein Horror. Wenn man die Stühle schnell wegräumt und dann sind zu viele Stühle, die werden gestapelt und dann hat man Berge von Stühlen. Die Tänzer [als allererste] sind sehr gestört, weil die Umwege machen müssen. Das war meine erste Erfahrung.

Kapitel 3.5

Stühle
26:56

Ricardo Viviani:

Die Stühle waren sehr unterschiedlich damals, man sieht [das] auf den Fotos. Gingen sie kaputt?

Jean Laurent Sasportes:

Die Stühle waren unterschiedlich, das waren ganz normale Stühle. Die gingen natürlich schnell[er] kaputt als präparierte Stühle, wie später. Präpariert bedeutet nur, dass man Metallecken reingeschraubt hat, das ist alles. Und die Tische waren auch nicht so wie später. Eine gute Sache ist, dass die Tische oben rund waren, aber unten nicht. Die sind nicht so gerollt wie die nächste Tischgeneration. Was sehr gut ist, [denn] wenn man beschäftig ist und da hat man noch 2, 3 Tische, die auch durch die Bühne rollen, das macht es nicht leicht. Natürlich mein zweites großes Erlebnis mit Café Müller ... weil Nancy einmal oder zweimal war, weiß ich nicht mehr.

28:12

Ricardo Viviani:

Ja, ein paar Vorstellungen, auch sehr spät am Abend. [Damals] nur Café Müller. Unmittelbar dann ging es in die nächste Erfahrung.

Jean Laurent Sasportes:

Und die nächste Erfahrung war eine große Tournee in Südamerika. Das war meine erste Tournee. Da war ich mit dieser Rolle in Café Müller und auch mit Sacre als Tänzer. So wie Malou und Dominique, alle haben Café Müller und Sacre mitgetanzt.

Ricardo Viviani:

Kontakthof. Hast du Kontakthof mitgemacht?

Jean Laurent Sasportes:

Kontakthof habe ich auch mitgemacht. Da waren viele Vorstellungen. Der Vorteil, was schön ist, dass man eine Erfahrung langsam bauen kann und aus seiner Erfahrung versuchen, das zu verbessern. Nicht mehr so sichtbar zu sein und effizienter und mit mehr Gefühl. Ich weiß das, weil Dominique und Malou nie zufrieden waren, nie, mit dem, was ich machte. Es ist so weit gegangen, dass ich manchmal geweint habe. Haben wir eben gestern darüber gesprochen, wir haben zusammen gegessen. Malou sagte zu Dominique: „Kannst du dich erinnern, wir haben ihn fertig gemacht, ihn kaputt gemacht.“ (lacht) Das war natürlich nicht aus Bosheit, sondern weil sie so viel verlangen. Diese Rolle ist wirklich wunderbar. Es ist die schönste Sache, [die] ich in diesem Beruf zu tun bekommen habe. Man ist nicht mit dem Publikum beschäftigt oder [da|mit, sich zu zeigen, sondern fast im Gegenteil ist man ein Mensch auf der Bühne. Man muss nicht zu viel präsent sein, aber trotzdem immer da sein. Das heißt, da trifft man [auf] Sachen, die viel tiefer zu bearbeiten sind, als wenn man sich [dem] Publikum zeigt. Nichts dagegen, mache ich auch sehr gerne, aber ich habe gemerkt, für mich habe ich viel durch Café Müller gelernt. Wir haben unheimlich viele Vorstellungen gehabt insgesamt, das war eine riesige Tournee. Danach, langsam, konnte ich das mit mehr Sensibilität vertiefen.

31:08

Ricardo Viviani:

Diese Rolle hat Rolf Borzik [erfunden]. War dieses Bewusstsein für dich präsent?

Jean Laurent Sasportes:

Er hat sich eigentlich nie eingemischt [in den Proben]. Ich glaube ein paar Mal einen Tip gegeben, aber Malou und Dominique, und Pina auch, haben vielleicht 5000 Mal gesagt: „Nee, Rolf machte SO.“ Ich respektierte das, aber das Problem war, dass ich das Gefühl hatte, ich würde es nicht schaffen. Danach, als ich Rolf [besser] kennengelernt habe, auch durch Erzählungen, dachte ich, dass [nur] jemand wie Rolf diese Rolle kreieren konnte und am besten machen. Irgendwann hatte ich vielleicht geschafft, das richtig zu machen. Jemand, der sich wirklich nur als Mensch präsentiert, kommt. Man würde ihm sagen: ‚Rolf, du bist auf der Bühne, da sind Zuschauer, die dich angucken.‘ [Dann] würde er sagen: ‚Nee, dann mache ich nicht mit.‘ Und ich glaube, er ist wirklich mit dieser Sicht in diese Rolle gestartet. Deshalb hatte es eine besondere, gute Qualität, so menschlich.

Kapitel 3.9

Besondere Orte
34:03

Ricardo Viviani:

Zurück zu Nancy und ein paar anderen Orten, die besondere Bedingungen haben für ein Stück wie Café Müller, wo man auf einer Seite der Bühne hinausgehen muss und auf der anderen Seite wieder kommen. Da war diese Möglichkeit nicht. Wie ist man damit umgegangen

Jean Laurent Sasportes:

Erstens war ich mir [dessen] nicht sehr bewusst, weil es das erste Mal war, denn ich wusste nicht, wie es eigentlich auf einer normalen Bühne wäre. Aber [soweit] ich mich an das ursprüngliche Video erinnern kann, war Rolf oft in einer Ecke, einer dunkleren Ecke. Er ist nicht unbedingt rausgegangen. Er war ein bisschen mehr präsent. Ich glaube. Eigentlich passt das besser [zur] Situation, das heißt, [zu] dieser Person, die eigentlich in diesem Raum ist und aufpasst, dass diese Kunden oder Leute, die in dem Café sind, sich nicht verletzen. Es ist normal, dass er im Raum bleibt. Deshalb glaube ich, für mich war das ziemlich normal. Man muss nur in einer Ecke sein, wo man diskret präsent ist, ohne wirklich da zu sein.

4

Ricardo Viviani:

Vielleicht können wir etwas [weitergehen] mit der Zeit. Die nächste Sache, die passiert ist, war die Kreation von Keuschheitslegende. Wie war das als Prozess, war das auch eine neue Sache für dich?

Jean Laurent Sasportes:

Ja natürlich, erstens hatte ich nicht so viel Erfahrung mit professionellen Kompanien. Aber was mich immer interessiert hat, war Kreativität. Und dann dieser Prozess, wo man Fragen bekommt und man in seinen Erinnerungen sucht, in seiner Phantasie, nach Material, um die Frage von Pina zu beantworten. Das war für mich perfekt. Ein paar Jahre später war es für mich wie im Kindergarten zu sein und da alles Mögliche machen zu können. Die Phantasie hatte keine Grenzen. Die Fragen von Pina waren nicht so gefragt, dass man [sie] unbedingt verstehen muss und zu nah beantworten. Im Gegenteil, manchmal war das Missverständnis der Fragen sogar interessanter, als wenn man versucht, zu sehr zu bedienen, was man glaubt, dass sie hören will. Deshalb war es wunderbar. In Keuschheitslegende habe ich großen Spaß gehabt. Ich muss sagen, in allen Stücken danach habe ich riesig großen Spaß gehabt.

Jean Laurent Sasportes:

1980 war das zweite Stück, das ich in diesem Prozess gemacht habe, und ich weiß, dass ich einen kleinen Moment von Verzweifelung gehabt habe. Das heißt, wir haben diesen Prozess gemacht, Material geliefert und dann irgendwann war Pina mit dem Material [beschäftigt] und versuchte ein Stück zu machen. Ich weiß, dass ich das irgendwann in Frage gestellt habe. Ich dachte: Es ist so, wie [wenn] man Steine in eine Tüte tut und irgendwann zieht man welche raus und dann baut man ein Stück. Ich kann mich gut erinnern, es war nur ein bißchen in Frage stellen, nicht tiefer[gehend]. In der Generalprobe von 1980 / ich glaube, dieses Problem [hatte ich], weil ich nur die Schwierigkeiten in mir reflektiert habe, die Pina hatte. Sie war emotional sehr getroffen. Sie hat uns viel [darüber] erzählt, was passiert, um die Verbindung zu den Fragen [her]zustellen. Sie erzählte nicht, um es uns zu erklären, sondern sie erzählte nur, um zu erzählen, was passiert. Aber dann konnte man verstehen, warum sie solche oder solche Fragen [stellte]. Vielleicht weil das für sie schwer [war], dieses Stück zusammen zu bauen. Dann habe ich irgendwas [davon] in mir reflektiert und ein bißchen in Frage gestellt. Ich weiß immer noch, dass ich in der Generalprobe merkte, was für ein Genie dahinter stand. Ich kann das nicht erklären, als ich diesen Durchlauf erlebte, plötzlich habe ich überhaupt nichts mehr in Frage gestellt. Plötzlich habe ich das Genie gespürt, das dahinter stand, und dieser Prozess war nur ein Prozess, aber natürlich ist es überhaupt nicht nur Steine nehmen und die hintereinander kleben. Und dann habe ich das natürlich nie wieder in Frage gestellt. Im Gegenteil arbeite ich heutzutage in diesem Prozessmodus oder lasse mich davon sehr inspirieren. Ich finde, es ist eine sehr intelligente Art, mit der Kreativität von anderen Leuten umzugehen.

40:55

Ricardo Viviani:

Wir sprechen über dieses Haus, 1980 hat hier [im Schauspielhaus] Premiere gehabt. [In Bezug auf Pina] spricht man über mehr sehen, genauer anschauen. Zwei Fragen: Erstens zum Thema Anschauen – wenn du sagst, dass du in dem Moment die Generalprobe angeschaut und erkannt hast, dass etwas stimmt – war das auch ein Lernprozess für die Arbeit mit Pina und deine spätere Arbeit. Um das präziser zu fragen: Was kriegt man, wenn man Fragen stellt und kriegt diesen Input? Was bringt das?

Jean Laurent Sasportes:

Die Generalprobe habe ich mitgemacht. Dieses Gefühl ist mir gekommen, als ich auf der Bühne war. Für mich in dem Moment ist es nicht so konkret. Es ist nur ein Gefühl, das man spürt, so wie man eine Musik hört und man spürt die schöne Harmonie von dieser Komposition, ohne zu analysieren, zu erklären, warum man das Gefühl hat. Es war ein sehr innerliches In-Frage-Stellen, nicht etwas, das es zu einem Konflikt brachte, es war nur [eine Verschiebung] von Bewunderung zu in Frage stellen. Und dann ist es so, was man spürt, was ich verstand, warum diese Szene nach dieser Szene kommt.

Kapitel 4.4

Das Herz öffnen
42:58

Jean Laurent Sasportes:

Jetzt fällt mir ein: Als ich das gespürt habe, war in mir nicht nur Bewunderung, sondern ein sehr großes Vertrauen – in Pina, in [das], was sie bewegt hat und was sie von uns wollte. Es [wurde] mir konkreter [bewusst], ohne dass ich es formulieren musste. Vielleicht, was ich durch dieses Vertrauen gelernt habe, ist [ähnlich dem], was ich später mit Improvisation gelernt habe. Dass man lernt, etwas zu vertrauen, das nicht erklärbar ist, das mit der Natur zu tun hat. Etwas, das organisch ist. Etwas, das man in sich selbst hat. Eigentlich macht man die Tür seines Herzens auf, man lernt die Tür seines Herzens aufzumachen. Und das ist, was ich besonders mit Pina stark gelernt habe. So gut wie ich das lernen konnte. Es ist ein Weg, man kann nie sagen, ich habe es gelernt, man ist dabei zu lernen.

44:55

Jean Laurent Sasportes:

Es gibt viele Leute, die mir etwas gebracht haben in meinem Leben, und drei sind sehr besonders: eine ist Pina, [ein] anderer ist Kazuo Ohno, ihn haben wir auch persönlich kennengelernt und viel miterlebt, auch in Japan, und der dritte ist Masamichi Noro, der Begründer von Kinomichi, mit ihm habe ich 25 Jahre gearbeitet. Kinomichi ist ein Bereich, den ich weiter unterrichte. Diese drei Master haben etwas gemeinsam – die kannten sich auch gegenseitig – und das ist, dass sie ein Herz mit riesigen großen Türen haben. Man lernt von ihnen, dass das ein richtiger Weg ist.

Ricardo Viviani:

[Pina] stellt Fragen, man improvisiert, und dann sagt sie: „Nein, wir improvisieren nicht.“ Kannst du uns etwas [über den Arbeitsprozess] erzählen?

Jean Laurent Sasportes:

Irgendwann kam raus [d.h. wurde behauptet], dass wir improvisieren. Das ist überhaupt nicht der Fall, es war nie der Fall. Pina hat uns Fragen gestellt. Diese Fragen kommen natürlich nicht von irgendwo, [sondern] die waren nah an dem, was sie mit dem Stück sagen wollte. Das [wurde] uns nie wirklich erklärt, wir haben keine Besprechung gehabt am Anfang, um zu wissen, worüber das Stück geht. Ich denke, Pina hatte ein großes Misstrauen in zu viel Kopf, zu viel Intellekt. Mit Recht – das kann wirklich stören und gefährlich sein. Der Intellekt kann zu viel Macht haben, so dass man die Kreativität und die Sensibilität kaputt [macht]. Sie hat Fragen gestellt, die manchmal für sie sehr persönlich waren, wie in 1980. Das Stück 1980 war über Rolf und seinen Tod. Es hatte viel mit Rolf zu tun, [mit dem] was sie mit ihm erlebte. Das ist etwas, was nicht in dem Stück zu verstehen ist – darum geht es nicht – aber es geht um die Emotionen, die sie da gehabt hat, Emotionen, die jeder Mensch spüren kann, jeder auf seine Art. Das Stück erzählt für den normalen Zuschauer nicht über Rolf, aber drückt bestimmte Emotionen aus, die sehr menschlich, sehr tief sind. Es war ein persönliches Stück. Es gibt Stücke, die weniger persönlich sind. Palermo Palermo hat viel zu tun mit der Stadt Palermo, natürlich von einem sehr menschlichen und sensiblen Weg aus gesehen.

Jean Laurent Sasportes:

So, wenn man eine Frage [gestellt] bekommt, zum Beispiel: ‘Wovor hattet Ihr Angst, als Ihr klein wart?’ Das ist eine Frage, wo man viel in seine eigene Erfahrung, eigene Erinnerung greifen kann und effektiv erzählen, durch Bewegung, durch Erzählung, durch Szene[rie], wovor man Angst hatte, als man klein war. Jeder Mensch, als er klein war, hat Angst gehabt. Wenn das in einem Stück [auf die Bühne] kam, ist es nicht intellektuell verbunden mit einer Geschichte, aber es trifft trotzdem bestimmte Seiten der Sensibilität eines Menschen. Dann hat man sich Gedanken gemacht, entweder Erinnerungen oder Phantasie, es gab einige Fragen, die nur mit Phantasie beantwortet [werden] konnten. Dann hat man eine kurze Szene gespielt, die nicht unbedingt man selbst ist, aber man zeigt etwas anderes. Es war unglaublich breit in den Möglichkeiten. Ich habe oft zu Pina gesagt: Entschuldigung, es ist sehr doof, was ich da zeige, aber ich will es loswerden. Da hatte sie natürlich Verständnis dafür. Wer weiß, manchmal hat sie das auch in einem anderen Kontext benutzt.

5

Jean Laurent Sasportes:

Dann hat man sich Gedanken gemacht, hat geübt, hat probiert und dann, wenn man diese Antwort Pina gezeigt hat, wusste man ganz klar, was man macht. Das ist keine Improvisation, ich nenne das Komposition. Wenn man improvisiert, dann sollte man wirklich, wirklich sehr gut sein, weil Pina uns einen Monat später fragen wird: „Weißt du, was du damals gemacht hast vor drei Wochen? Kannst du es bitte genau wieder machen?“ Und der, der vor drei Monaten improvisiert hat und ganz genau zeigen kann, was er da gemacht hat, das würde ich selbst nicht schaffen. Es ging nicht um Improvisation.

Kapitel 5.2

Improvisation
51:57

Ricardo Viviani:

Später hast du mit Improvisation gearbeitet. Wie ist das? Kannst du das beschreiben?

Jean Laurent Sasportes:

Das ist was anderes. Man muss erzählen, dass erstens Wuppertal in den 60er Jahren ein europäisches Zentrum für Free Jazz war. Das heißt, dass die Musiker, die dadurch sehr berühmt geworden sind in diesem Bereich des Free Jazz, weiter eine große Richtung für musikalische Improvisation entwickelt haben. Danach hat es sich langsam vom Free Jazz befreit, weil irgendwie Free Jazz mehr eine Reaktion in den 60er Jahren war, es ist [freie] Improvisation geworden. Dann habe ich Peter Kowald kennengelernt. Peter ist ein sehr guter Freund geworden und mit ihm habe ich meine erste Improvisation-Tanz-Erfahrung angefangen. Ich glaube 1994 habe ich meine erste Vorstellung mit ihm und anderen Musikern gehabt. Dann habe ich mehr und mehr Musiker kennengelernt und Improvisation-Performances gemacht. Ich habe das Glück gehabt, ganz tolle Improvisationsmusiker kennenzulernen. Ich habe auch ein Stück gemacht, das eher strukturierte Improvisation war: Short Pieces. Und das mache ich immer noch weiter. Das war wirklich etwas anderes als die Arbeit mit Pina, auch als Choreograf.

Peter Kowald
54:04

Jean Laurent Sasportes:

Es ist sehr spät in meinem Leben, aber eine Richtung, die ich gern erforschen will, ist strukturierte Improvisation für ein Tanztheaterstück zu entwickeln. Das heißt, dass Improvisation zwischen der nicht improvisierten Choreografie, wo alles ganz fest[gelegt] ist, was, wann, wo, wie, und der vollen Improvisation, wo alles offen ist, unheimlich viele Möglichkeiten gibt. Und was ich strukturierte Improvisation nenne ist eigentlich: man [legt] bestimmte Sachen fest, fixiert, welches Material man benutzt oder wann und so weiter und man lässt die anderen Möglichkeiten offen. Das ist etwas, das ich gerne erforscht [hätte]. Um die Qualität von einem festgeschriebenen Tanztheaterstück zu haben, trotzdem die Spontaneität und die Lebendigkeit von Improvisation auch dazu.

Ricardo Viviani:

Wie ist diese Spannung zwischen Strukturieren und Freiheit oder Entscheidungen, für die der Darsteller in dem Moment verantwortlich ist, in Pinas Arbeit?

Jean Laurent Sasportes:

Eigentlich ist alles festgeschrieben. Pina mochte überhaupt nicht, wenn man sich erlaubte, was anders zu machen, als was eigentlich geplant war. Denn es war alles festgeschrieben, aber ich habe mich immer sehr frei gefühlt als Darsteller, als Tänzer bei der Arbeit auf der Bühne. Irgendwie hat man eine große Freiheit innerhalb dieser Begrenzung. Das Timing ist festge[legt], wann man was macht. Man hat bestimmte Cues, ganz genau. Es ist auch zu verstehen, weil es sehr komplex ist. Man hat das Gefühl gehabt, dass wir auf der Bühne improvisieren, weil es sehr komplex ist. Es ist eine Polyphonie, die eigentlich nur ihre Qualität von einer Veranstaltung zur anderer behalten kann, wenn diese Polyphonie sehr genau komponiert ist, weil man sonst Abende hätte, die sehr gelungen sind, und andere, die eine Katastrophe sind. Wenn diese Polyphonie auseinander geht wird das Free Jazz. Aber trotzdem frage ich mich, wo lag dieses Gefühl von Freiheit? Ich weiß es noch nicht.

Ricardo Viviani:

Ein Stück wie Arien, zum Beispiel. Das stellt eine sehr freie Situation dar, wo diese Personen sind, ich [vergleiche] jetzt mit Sacre, wo die Musik läuft und mit allen diesen Leuten auf der Bühne, die Sachen müssen passieren, sonst [kollidieren sie].

Jean Laurent Sasportes:

Mit Arien auch. Alles ist [sehr] genau, so wie in Sacre, das heißt in diesem Moment – in Sacre ist es die Musik, das heißt die Musik ist die Timeline, wenn dieser Ton kommt oder nach so vielen Beats wechselt man von dieser Bewegung zu dieser Bewegung, es ist sehr fixiert, und sehr eingeordnet. Man sieht als Zuschauer eine Gruppe von Tänzern, die die gleiche Bewegung machen unisono oder manchmal einige Soli, und ich glaube, nur die Komposition ist sehr geordnet. Die Komposition von Arien ist nicht ganz genau so fixiert, in dem Sinn, ob ich meine Hand hier oder hierhin mache (Geste), es gibt bestimmte Szenen in Arien, da ist es egal, solange es passt. Aber trotzdem, was passiert, wann [es] passiert, wo es passiert ist genau [fest]geschrieben. Nur ist es nicht auf die Musik [auf]gebaut, sondern mehr auf die Reihenfolge von Szenen, nicht eine Szene nach der anderen, sondern zum Beispiel weiß ich, dass ich kommen muss, hin und her laufen, allein sprechen, als ob ich in Trance bin. Das mache ich nur, wenn er (zeigt) sich hinsetzt. Wie lange ich das mache ist nicht so festgeschrieben, ich muss [es] wirklich machen so lange, bis ich kaputt bin. Aber trotzdem kann ich nicht eine halbe Stunde da laufen.

6

Ricardo Viviani:

Es gibt Stücke, wo diese gesamte Zusammenarbeit, die Kollektive sehr stark sind. Besonders [bezogen] auf die Komplexität von Abhängigkeiten, von Energie auf der Bühne, Kontakthof zum Beispiel.

Jean Laurent Sasportes:

Ich dachte gerade, Kontakthof ist eigentlich ein Tanztheater-Stück im Vergleich zu Sacre, da kann man sagen, es ist mehr ein getanztes Stück, aber die Komposition ist fast genauso klar wie in Sacre. Die Gruppen, manchmal [ein] kleines Solo, aber es bleibt ziemlich – von der Struktur her – genau so geordnet oder man kann sagen, dass diese Ordnung einfacher zu sehen, zu spüren ist. Stücke wie Arien – das ist ein sehr gutes Beispiel, weil extrem – da gibt es wirklich das Gefühl von Chaos, und es ist kein Chaos. Die Komposition ist konkret fixiert und gelernt, nur das Gefühl, das dabei herauskommt, ist ein Gefühl von Panik und Chaos. Das ist natürlich absichtlich, weil das das ist, was das Stück erzählen will.

1:03:15

Jean Laurent Sasportes:

Der Unterschied ist im Stil, das heißt, es gibt Stücke, die solide strukturiert sind, ein Extrem ist Sacre. Sehr strukturiert: [da] kann man von Kontakthof sprechen. Kontakthof ist für mich ein sehr solides Stück, in dem Sinn dass, auch wenn wir nicht unbedingt so gut drauf waren, bleibt das Stück stark. Ein Stück wie Arien ist sehr sensibel, wenn wir nicht tief genug sind, auch wenn wir das gleich machen und das gleich liefern, ist der Abend nicht so tief. Ich glaube, das ist [so], weil dieser Stil noch empfindlicher ist. Es verlangt, was es nicht in dieser klaren Struktur hat, von der Authentizität [dessen], was wir da ausdrücken. Das heißt nicht, dass man in Kontakthof oder Sacre nichts von innen [heraus] hat, überhaupt nicht. Aber die Struktur von dem Stück hilft, dass das Stück [besser] zusammen bleibt. Wenn in Arien zu viele Leute nicht [richtig] dabei oder nicht authentisch sind, dann geht das Stück auseinander.

7

Kapitel 7.1

Schwerpunkte
1:05:04

Ricardo Viviani:

Die Frage ist, wenn man an Weitergaben von Stücken denkt, wie erreicht man diese Qualität? Formell, darstellerisch, was vielleicht das Gleiche ist, oder nicht. Insgesamt für die Person, die das beibringt. Wenn ich jetzt eine Frage dazu formuliere: Geht es darum zu identifizieren, wenn eine Weitergabe ist, wo sind Schwerpunkte?

Jean Laurent Sasportes:

Das ist natürlich ein sehr sensibles Thema, wie kann man das weitergeben. Ich habe das zuerst [selbst erlebt]. Es gab viele Stücke, die ich gelernt habe, wo ich nicht am Anfang dabei war. Kontakthof, Arien, alles Stücke, die vor mir da waren. Nur dass ich sehr großes Glück hatte, Pina war da, die Leute aus der kreativen Zeit waren da, ständig präsent, das heißt, ich hatte ständig Informationen aus erster Hand über diese Rolle. Ich glaube, das ist sehr wichtig. Wie du sagst, es gibt diese formale [Seite], man guckt im Video, was man zu tun hat. Ich spreche eher von einem Tanztheater-Stück, ein getanztes Stück wie Sacre ist, sagen wir, einfacher, außer vielleicht für die, die das Opfer spielt.

Im Tanztheater-Stück kommst du rein, dann gehst du da hin, nimmst diesen Stuhl, setzt dich hin. Ich nehme ein Beispiel aus 1980: Du kommst und schreist ‘Fire, fire, fire’. Warum? Weil da ein Feuer ist und du willst, dass die Leute kommen. Es ist eine andere Sache, wenn du weißt, wo es herkommt, und warum man das sagen muss oder was damals hinter dieser Frage stand. Was stand da hinter diesem Schreien: Feuer, Feuer, Feuer? Damals standen [dahinter] vielleicht Sachen wie: Du hast jemanden da, der sich verletzen will, du willst ihn nicht verlassen, nicht weg aus dem Raum, du hast Angst, dass diese Person sich verletzt, aber du willst jemanden rufen. Was machst du? Das war die Frage. Wichtig, sehr wichtig, weil dann die Phantasie [arbeiten] kann. Damals war Pina da, Jan, Malou, Dominique. Für mich war [das] natürlich ideal und es gab viel mehr Zeit. Man hatte nicht so ein riesiges Repertoire, es ist normal. Heute hat man viel mehr Druck. Oder ist es nur ein Gefühl von mir? Weiß ich nicht. Am heutigen Tag natürlich, seit vielen Jahren, [stehen] nicht mehr alle Leute zur Verfügung, um die ursprüngliche Geschichte zu erzählen.

1:09:30

Jean Laurent Sasportes:

Sicher, dass für mich damals das Vertrauen, das Pina in mich hatte, und das Gefühl, dass ich dieses Vertrauen merkte, mir unheimlich geholfen hat. Weil Pina mir nie gesagt hat, du musst [es] genau so wie er machen. Sie hat mir gesagt, da spürst du das und das und das und du musst das ausdrücken. Und dann verstehst du: Ich selbst muss das ausdrücken und nicht unbedingt so wie der, den ich im Video sehe. Solange, was rauskommt, authentisch ist und passt, ist das wichtig. Es ist natürlich einfacher für mich diesen Weg zu [gehen], als zu versuchen genau nachzumachen. Das ist nicht Kritik [daran], wie es danach gemacht [wurde]. Es ist nur, dass, wenn man allein gelassen ist, mit [dem], was man zu lernen hat, ist es ein bisschen eine Sicherheit, das ganz genau nachzumachen.

1:10:56

Ricardo Viviani:

Du hast sehr lange in Café Müller diese Rolle gemacht, und [schließlich] hat jemand anders [sie] gelernt. Wie war diese Übergabe?

Jean Laurent Sasportes:

Ich habe das zweimal gemacht: Einmal habe ich das mit Fernando gemacht und irgendwann in Rotterdam mit der Kompanie … [Redaktionelle Anmerkung: Gent und Antwerpen, die Kompanie von Sidi Larbi Cherkaoui]

Ja genau. Mit Fernando habe ich mein Bestes getan, aber auf der anderen Seite war ich nicht immer gefragt und dabei, weil, ich glaube, Dominique und Malou die Authentizität von Fernando schützen und behalten wollten. Nicht dass er zu viel Information von mir bekommt und danach diese Rolle mit zu viel Kopf spielt. Was ich sehr gut verstehe. Das hatte ich auch nicht viel bekommen, weil die, die mir das beigebracht haben, Dominique und Malou, keine Leute sind, die es selbst gemacht haben. Das heißt, die hatten keinen Trick, wie man das machen kann. Ich verstehe [das], aber das hat es natürlich für Fernando schwer gemacht, in dem Sinn, dass er [auf] die Schwierigkeiten [gestoßen ist, auf] die ich selbst [gestoßen bin]. Das heißt, dass, um wirklich zufrieden zu sein mit dieser Rolle, mit [dem,] was man gemacht hat, man viele Vorstellungen machen muss. Ich weiß nicht, wie viele Vorstellungen ich gebraucht habe, um mich ein bisschen zu beruhigen und auch bis Dominique und Malou mir etwas vertraut haben. Auf jeden Fall schafft man [es] nicht in zwei Wochen Proben. Man muss die Erfahrung machen. Deshalb war die Übergabe so gut wie möglich, aber es ist ein bisschen wie im Leben, man kann helfen, trotzdem muss man sagen, ja deine Erfahrungen musst du selbst machen. Ich würde so weit helfen, [vielleicht] zu viel, da ist zu verstehen, wenn man sagt, nein, nicht zu viel helfen, sonst ist es nicht mehr authentisch.

Kapitel 7.4

Belgien
1:14:16

Ricardo Viviani:

Und dann in Belgien?

Jean Laurent Sasportes:

Da waren die Proben mehr / vielleicht hatte ich die Erfahrung schon und dann habe ich viel mehr Elemente übergeben. Natürlich wie die Tische und Stühle stehen, das habe ich auch peu à peu fester organisiert. Nicht um mir die Arbeit leichter zu machen. Wenn man die Vorstellung macht, sagt irgendwann Dominique oder Malou oder Pina: Ja da sind zu viele Stühle, ich kann diese Bewegung nicht machen. Dann versucht man irgendwie, ein bisschen weniger Stühle zu haben, zu verstehen, warum die sich da gestapelt haben, weil die Choreografie fest ist, und dann versteht man ein bisschen. Deshalb wird man das danach so organisieren, sodass es weiter spontan bleibt, aber man vermeidet Situationen, die für die anderen danach schwierig sind. Das heißt, dass wenn man die Bühnenarbeiter die Stühle und Tische installieren lässt, ohne sich darin einzumischen, das heißt, die wissen nicht, was sie machen mit den Stühlen / und [wenn] man so die Vorstellung macht, dann [kommt] man in eine Lage, wo die Choreografie zu sehr gestört ist. Natürlich will man das vermeiden für Dominique, für Malou, für Pina, für die Zuschauer – man muss [daran] denken, die Zuschauer müssen [d.h. sollten] keinen Stuhl auf den Kopf bekommen. Die Tendenz ist immer, die Stühle nach vorne zu schieben – durch die Choreografie. Aber man muss aufpassen, weil man nach 20 Vorstellungen bemerkt hat, dass man immer so eine Mauer hat, dass erstens die Zuschauer nichts mehr sehen, und (lacht) / Alle diese Sachen, kleine Informationen, die man sammelt, Lösungen, die man findet, die es natürlich ein bisschen mehr intellekt[gesteuert] machen, aber man muss aufpassen, dass es nicht die Authentizität und Spontanität stört. Aber wenn die nicht da sind, [stößt man auf] die Schwierigkeiten vom Anfang. Jemand neues wird [auf] diese Schwierigkeiten [stoßen] und die Tänzer und Tänzerin würden [auf] diese Schwierigkeiten auch [stoßen].

Ricardo Viviani:

Hast du für dich ein bestimmtes Ritual vor der Vorstellung durch diesen Raum entwickelt?

Jean Laurent Sasportes:

Ja, nicht so eng, aber natürlich nach 300, 400 Mal (lacht). Es war nie Routine, es ist wahnsinnig, erstens habe ich überhaupt mit Pina nie ein Stück erlebt - andere Stücke habe ich auch 200, 250 Mal gespielt und nie das Gefühl gehabt, das ist Routine, sonst würde ich [das] sowieso nicht machen können. Malou, Dominique sind auch keine Menschen, die akzeptieren würden, ein Routine-Gefühl zu spüren. Die Stücke sind so gemacht, dass man nie das Gefühl hat, und noch weniger mit Café Müller. Man baut langsam [eine Reihenfolge], wenn man kommt, die Zeit, [in der] man die Stühle stellt. Da ist Dominique, wo er sich immer warm macht. Ein kleines Ritual baut sich von selbst, aber es ist nicht ein Ritual, für mich, das unbedingt sein muss. Es ist wahr, dass Pina immer eine bestimmte Zeit hatte, wo sie an ihren Bewegungen gearbeitet hat. Und sogar die gleiche [Bitte]: Nicht den Stuhl hier bewegen. Nach 300 Mal kommt das! (lacht) Ja, ja, ja, ist kein Problem. (gestikuliert beschwichtigend) Das war ein Familienstück.

8

Kapitel 8.1

Korrekturen
1:19:08

Ricardo Viviani:

[Im Hinblick auf die] Tatsache, dass Pina selbst in dem Stück getanzt hat, mit geschlossenen Augen, ... wie wurden die Korrekturen gemacht?

Jean Laurent Sasportes:

Wie gesagt, Café Müller war ein spezielles Stück. Wir haben uns gegenseitig korrigiert, Timing-Sachen. Pina und die anderen brauchen nicht die Augen aufzumachen, um zu merken, was stimmt oder nicht. Aber auch jeder selbst wusste, wo seine Korrekturen [nötig] waren. Irgendwann später haben wir oder hat Pina auch [darum gebeten], ein externes Auge zu haben. Die Korrekturen, die man gehört hat, wusste man schon. Erfahrene Leute, auch in anderen Stücken – man weiß [es], man hat erlebt, gespürt, da bin ich zu weit vorne oder da war ich zu spät. Es ist sehr gut, jemanden zu haben, der korrigiert, das ist sehr wichtig, aber für so ein Stück wie Café Müller, könnte man es auch ohne.

Kapitel 8.2

Pinas Rolle
1:21:15

Ricardo Viviani:

Die paar Mal, die Pina nicht die Aufführung gemacht hat, war es eine komplett andere Welt?

Jean Laurent Sasportes:

Komplett nicht. Erstens weil die Person, die [es] für Pina gemacht hat, so wie Héléna Pikon oder Anne Martin, / dass Pina an die gedacht hat, das war nicht umsonst. Sicher dass Pina etwas sehr Besonderes hatte, aber ich dachte nie an [einen] Vergleich. Es ist nur eine gute Gelegenheit zu erzählen, was Pina besonderes hat.
In Café Müller gibt es einen Moment, wo ich hinter der Tür bin und auf meinen nächsten Auftritt warte. Da habe ich immer Pina gesehen, die von ihrer Position an der Wand die Diagonale nach vorne lief. So (Geste mit den Händen nach unten) und irgendwann waren die Arme [ausgestreckt]. Diese Sicht habe ich hunderte Mal gesehen und dieser Moment war immer magisch. Je älter sie wurde, [desto] magischer wurde es. Man hat wirklich das Gefühl, dass sie keinen Kontakt mit dem Boden hat, dass sie wie ein Geist ist, der durch den Raum geht, und man hat das Gefühl, sie würde in die Luft [rein gehen]. Ich habe nie verglichen und habe auch nie daran gedacht, als jemand anderes es machte, aber dieses ätherische Gefühl konnte besonders Pina weitergeben.

Ricardo Viviani:

[Bei] einer dieser Gelegenheiten, [als] Héléna Pikon für Pina die Rolle gemacht hat, hat Pina es von draußen angeschaut und einige Änderungen gemacht, besonders in der Beleuchtung. Hast du das erlebt, bewusst, wie es anders geworden ist?

Jean Laurent Sasportes:

Ne, sehr bewusst nicht. Ich kann mir vorstellen, [wie es war,] als Pina das geguckt hat, weil es sehr schwierig ist – meine eigene Erfahrung – ein Stück als Choreograf, wo man selbst drin ist. Denn eigentlich kann man nicht in beiden Positionen sein. Ich war so beschäftig mit [dem], was ich zu tun hatte.

9

1:24:24

Ricardo Viviani:

Was ist Tanztheater?

Jean Laurent Sasportes:

DIESES Tanztheater von Pina: Wie ich das erlebt habe, war es eine große Familie. Es hat sich sehr verändert. Natürlich wenn Pina nicht mehr da ist, kann man das nicht so spüren wie in diesen ersten Jahren. Ich habe das große Glück gehabt zu kommen, als diese Familie wirklich angefangen hat sich zu bauen. Die Kompanie hat 1974 angefangen, ich bin 1979 gekommen, das heißt 5 Jahre später. [Sie] existierte schon, hatte wunderschöne Stücke schon gemacht, war schon eine Familie. Aber es war nicht so spät, dass ich das Gefühl hatte, ich konnte in die Familie nicht rein[kommen]. Wir hatten auch eine andere Art von Leben. Nach den Proben sind wir immer zusammen ins Restaurant gegangen, haben viel über die Arbeit, das Stück, über die Proben gesprochen. Dieser Austausch ist weiter gelaufen. Wenn ich Malou, Dominique treffe, wenn ich ins Büro komme, wie ich [es vor Kurzem] nach ein paar Monaten wieder gemacht habe, es ist so, wie [wenn] ich in meine alte Familie zurückkehre. Es gibt in der Geschichte der Bühnenkunst solche Familien, die die Geschichte markiert haben. Natürlich weil die Hauptperson der Familie eine sehr besondere Person war und die Familie auch eine sehr besondere geworden ist. Ich denke an Tadeusz Kantor zum Beispiel, auch Fellini und sein Team, Pasolini und sein Team. Es ist ein sehr markanter Moment in der Entwicklung von Tanz und Theater. Natürlich haben viele andere Leute vorher versucht, Tanz und Theater zusammen [zu bringen]. Einige Versuche waren gelungen, andere waren es nicht. Aber ich glaube, Pina hat mit ihrer Sensibilität eine [gegenseitige] Ergänzung von beiden geschafft. Der Begriff Tanztheater, in dem ich als Choreograf mich bewege, besonders wenn ich meine eigenen Stücke mache / Ich mache viel Choreografie für Theater und es ist nicht das Gleiche. Choreografie für Theater und Choreografie für Tanztheater sind zwei verschiedene Welten. Es gibt eine große Freiheit [dar]in, wo man Material suchen kann. Es gibt so viele verschiedene Arten von Ausdruck: Sprechen, Singen, Bewegung, auch abstrakte Bewegung. Zwischen Café Müller und Bandoneon ist ein riesiger Rahmen. [Das] sieht man auch [heutzutage]. Das ist da: große Freiheit.


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